Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

es wär' ihre Schwester; darüber freuten sie sich
alle, und waren froh, daß sie es nicht getödtet
hatten.

Das Schwesterchen übernahm nun den
Haushalt, und wenn die Brüder auf der Jagd
waren, sammelte es Holz und Kräuter, stellte
zu am Feuer, deckte die Bettlein hübsch weiß
und rein, und thät alles unverdrossen und flei-
ßig. Einmal geschah es, daß es fertig war mit
aller Arbeit, da ging es in den Wald spazieren.
Es kam an einen Platz, wo zwölf schöne hohe,
weiße Lilien standen, und weil sie ihr so wohl
gefielen, brach sie alle miteinander ab. Kaum
aber war das geschehen, so stand eine alte Frau
vor ihr: "ach meine Tochter, sagte sie, warum
hast du die zwölf Studentenblumen nicht ste-
hen lassen! das sind deine zwölf Brüder, die
sind nun alle in Raben verwandelt worden und
sind verloren auf ewig." Das Schwesterchen
fing an zu weinen, "ach! sagte es, giebts denn
kein Mittel sie zu erlösen?" "Nein, es ist kein
Mittel auf der Welt, als ein einziges, das ist
so schwer, das du sie nicht damit befreien wirst:
du mußt zwölf ganzer Jahr stumm seyn, sprichst
du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine
Stunde daran, so ist alles umsonst und deine
Brüder sind in dem Augenblick todt."

Das Schwesterchen setzte sich da auf einen
hohen Baum im Wald und spann und wollte

es waͤr' ihre Schweſter; daruͤber freuten ſie ſich
alle, und waren froh, daß ſie es nicht getoͤdtet
hatten.

Das Schweſterchen uͤbernahm nun den
Haushalt, und wenn die Bruͤder auf der Jagd
waren, ſammelte es Holz und Kraͤuter, ſtellte
zu am Feuer, deckte die Bettlein huͤbſch weiß
und rein, und thaͤt alles unverdroſſen und flei-
ßig. Einmal geſchah es, daß es fertig war mit
aller Arbeit, da ging es in den Wald ſpazieren.
Es kam an einen Platz, wo zwoͤlf ſchoͤne hohe,
weiße Lilien ſtanden, und weil ſie ihr ſo wohl
gefielen, brach ſie alle miteinander ab. Kaum
aber war das geſchehen, ſo ſtand eine alte Frau
vor ihr: „ach meine Tochter, ſagte ſie, warum
haſt du die zwoͤlf Studentenblumen nicht ſte-
hen laſſen! das ſind deine zwoͤlf Bruͤder, die
ſind nun alle in Raben verwandelt worden und
ſind verloren auf ewig.“ Das Schweſterchen
fing an zu weinen, „ach! ſagte es, giebts denn
kein Mittel ſie zu erloͤſen? „Nein, es iſt kein
Mittel auf der Welt, als ein einziges, das iſt
ſo ſchwer, das du ſie nicht damit befreien wirſt:
du mußt zwoͤlf ganzer Jahr ſtumm ſeyn, ſprichſt
du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine
Stunde daran, ſo iſt alles umſonſt und deine
Bruͤder ſind in dem Augenblick todt.“

Das Schweſterchen ſetzte ſich da auf einen
hohen Baum im Wald und ſpann und wollte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0062" n="28"/>
es wa&#x0364;r' ihre Schwe&#x017F;ter; daru&#x0364;ber freuten &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
alle, und waren froh, daß &#x017F;ie es nicht geto&#x0364;dtet<lb/>
hatten.</p><lb/>
        <p>Das Schwe&#x017F;terchen u&#x0364;bernahm nun den<lb/>
Haushalt, und wenn die Bru&#x0364;der auf der Jagd<lb/>
waren, &#x017F;ammelte es Holz und Kra&#x0364;uter, &#x017F;tellte<lb/>
zu am Feuer, deckte die Bettlein hu&#x0364;b&#x017F;ch weiß<lb/>
und rein, und tha&#x0364;t alles unverdro&#x017F;&#x017F;en und flei-<lb/>
ßig. Einmal ge&#x017F;chah es, daß es fertig war mit<lb/>
aller Arbeit, da ging es in den Wald &#x017F;pazieren.<lb/>
Es kam an einen Platz, wo zwo&#x0364;lf &#x017F;cho&#x0364;ne hohe,<lb/>
weiße Lilien &#x017F;tanden, und weil &#x017F;ie ihr &#x017F;o wohl<lb/>
gefielen, brach &#x017F;ie alle miteinander ab. Kaum<lb/>
aber war das ge&#x017F;chehen, &#x017F;o &#x017F;tand eine alte Frau<lb/>
vor ihr: &#x201E;ach meine Tochter, &#x017F;agte &#x017F;ie, warum<lb/>
ha&#x017F;t du die zwo&#x0364;lf Studentenblumen nicht &#x017F;te-<lb/>
hen la&#x017F;&#x017F;en! das &#x017F;ind deine zwo&#x0364;lf Bru&#x0364;der, die<lb/>
&#x017F;ind nun alle in Raben verwandelt worden und<lb/>
&#x017F;ind verloren auf ewig.&#x201C; Das Schwe&#x017F;terchen<lb/>
fing an zu weinen, &#x201E;ach! &#x017F;agte es, giebts denn<lb/>
kein Mittel &#x017F;ie zu erlo&#x0364;&#x017F;en?<choice><sic/><corr>&#x201C;</corr></choice> &#x201E;Nein, es i&#x017F;t kein<lb/>
Mittel auf der Welt, als ein einziges, das i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chwer, das du &#x017F;ie nicht damit befreien wir&#x017F;t:<lb/>
du mußt zwo&#x0364;lf ganzer Jahr &#x017F;tumm &#x017F;eyn, &#x017F;prich&#x017F;t<lb/>
du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine<lb/>
Stunde daran, &#x017F;o i&#x017F;t alles um&#x017F;on&#x017F;t und deine<lb/>
Bru&#x0364;der &#x017F;ind in dem Augenblick todt.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Das Schwe&#x017F;terchen &#x017F;etzte &#x017F;ich da auf einen<lb/>
hohen Baum im Wald und &#x017F;pann und wollte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0062] es waͤr' ihre Schweſter; daruͤber freuten ſie ſich alle, und waren froh, daß ſie es nicht getoͤdtet hatten. Das Schweſterchen uͤbernahm nun den Haushalt, und wenn die Bruͤder auf der Jagd waren, ſammelte es Holz und Kraͤuter, ſtellte zu am Feuer, deckte die Bettlein huͤbſch weiß und rein, und thaͤt alles unverdroſſen und flei- ßig. Einmal geſchah es, daß es fertig war mit aller Arbeit, da ging es in den Wald ſpazieren. Es kam an einen Platz, wo zwoͤlf ſchoͤne hohe, weiße Lilien ſtanden, und weil ſie ihr ſo wohl gefielen, brach ſie alle miteinander ab. Kaum aber war das geſchehen, ſo ſtand eine alte Frau vor ihr: „ach meine Tochter, ſagte ſie, warum haſt du die zwoͤlf Studentenblumen nicht ſte- hen laſſen! das ſind deine zwoͤlf Bruͤder, die ſind nun alle in Raben verwandelt worden und ſind verloren auf ewig.“ Das Schweſterchen fing an zu weinen, „ach! ſagte es, giebts denn kein Mittel ſie zu erloͤſen?“ „Nein, es iſt kein Mittel auf der Welt, als ein einziges, das iſt ſo ſchwer, das du ſie nicht damit befreien wirſt: du mußt zwoͤlf ganzer Jahr ſtumm ſeyn, ſprichſt du ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde daran, ſo iſt alles umſonſt und deine Bruͤder ſind in dem Augenblick todt.“ Das Schweſterchen ſetzte ſich da auf einen hohen Baum im Wald und ſpann und wollte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/62
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/62>, abgerufen am 18.12.2024.