König wollte aber nichts weiter hören: "wenns so ist, wie ich gesagt habe, so müssen sie ster- ben, lieber hau' ich ihnen selber den Kopf ab, als daß ein Mädchen darunter wäre."
Da war die Königin traurig, denn sie hat- te ihre Söhne von Herzen lieb und wußte nicht, wie sie zu retten waren. Endlich ging sie zu dem jüngsten, den sie vor allen lieb hatte, of- fenbarte ihm, was der König beschlossen, und sagte: "allerliebstes Kind, geh du mit deinen eilf Brüdern hinaus in den Wald, da bleibt und kommt nicht nach Haus, einer von euch aber halte immer Wacht auf einem Baum und sehe nach dem Thurm hier, wenn ich ein Söhn- chen zur Welt bringe, will ich obenauf eine weiße Fahne stecken, ists aber ein Töchterchen eine rothe, und wenn ihr das seht, dann rettet euch, flieht in die weite Welt, und der liebe Gott behüt euch. Alle Nacht will ich aufste- hen und für euch beten, wenns kalt ist im Win- ter, daß ihr nicht friert und ein warmes Feuer vor euch brennt, und wenns heiß ist im Som- mer, daß ihr in einem kühlen Walde ruht und schlaft."
So gesegnete sie die Kinder und sie gingen fort in den Wald. Oft guckten sie nach dem Thurm, und einer mußte beständig auf einer hohen Eiche sitzen und Acht haben. Bald auch wurde eine Fahne aufgesteckt, es war aber nicht
Koͤnig wollte aber nichts weiter hoͤren: „wenns ſo iſt, wie ich geſagt habe, ſo muͤſſen ſie ſter- ben, lieber hau' ich ihnen ſelber den Kopf ab, als daß ein Maͤdchen darunter waͤre.“
Da war die Koͤnigin traurig, denn ſie hat- te ihre Soͤhne von Herzen lieb und wußte nicht, wie ſie zu retten waren. Endlich ging ſie zu dem juͤngſten, den ſie vor allen lieb hatte, of- fenbarte ihm, was der Koͤnig beſchloſſen, und ſagte: „allerliebſtes Kind, geh du mit deinen eilf Bruͤdern hinaus in den Wald, da bleibt und kommt nicht nach Haus, einer von euch aber halte immer Wacht auf einem Baum und ſehe nach dem Thurm hier, wenn ich ein Soͤhn- chen zur Welt bringe, will ich obenauf eine weiße Fahne ſtecken, iſts aber ein Toͤchterchen eine rothe, und wenn ihr das ſeht, dann rettet euch, flieht in die weite Welt, und der liebe Gott behuͤt euch. Alle Nacht will ich aufſte- hen und fuͤr euch beten, wenns kalt iſt im Win- ter, daß ihr nicht friert und ein warmes Feuer vor euch brennt, und wenns heiß iſt im Som- mer, daß ihr in einem kuͤhlen Walde ruht und ſchlaft.“
So geſegnete ſie die Kinder und ſie gingen fort in den Wald. Oft guckten ſie nach dem Thurm, und einer mußte beſtaͤndig auf einer hohen Eiche ſitzen und Acht haben. Bald auch wurde eine Fahne aufgeſteckt, es war aber nicht
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Koͤnig wollte aber nichts weiter hoͤren: „wenns
ſo iſt, wie ich geſagt habe, ſo muͤſſen ſie ſter-
ben, lieber hau' ich ihnen ſelber den Kopf ab,
als daß ein Maͤdchen darunter waͤre.“
Da war die Koͤnigin traurig, denn ſie hat-
te ihre Soͤhne von Herzen lieb und wußte nicht,
wie ſie zu retten waren. Endlich ging ſie zu
dem juͤngſten, den ſie vor allen lieb hatte, of-
fenbarte ihm, was der Koͤnig beſchloſſen, und
ſagte: „allerliebſtes Kind, geh du mit deinen
eilf Bruͤdern hinaus in den Wald, da bleibt
und kommt nicht nach Haus, einer von euch
aber halte immer Wacht auf einem Baum und
ſehe nach dem Thurm hier, wenn ich ein Soͤhn-
chen zur Welt bringe, will ich obenauf eine
weiße Fahne ſtecken, iſts aber ein Toͤchterchen
eine rothe, und wenn ihr das ſeht, dann rettet
euch, flieht in die weite Welt, und der liebe
Gott behuͤt euch. Alle Nacht will ich aufſte-
hen und fuͤr euch beten, wenns kalt iſt im Win-
ter, daß ihr nicht friert und ein warmes Feuer
vor euch brennt, und wenns heiß iſt im Som-
mer, daß ihr in einem kuͤhlen Walde ruht und
ſchlaft.“
So geſegnete ſie die Kinder und ſie gingen
fort in den Wald. Oft guckten ſie nach dem
Thurm, und einer mußte beſtaͤndig auf einer
hohen Eiche ſitzen und Acht haben. Bald auch
wurde eine Fahne aufgeſteckt, es war aber nicht
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/59>, abgerufen am 21.11.2024.
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