bei der Lüge beharren. Aber die Königin war nicht zu bewegen, und blieb bei ihrer Aussage. Da verließ sie die Jungfrau Maria, und nahm das jüngste Kind auch mit sich.
Der König konnte nun seine Räthe nicht länger zurückhalten, sie behaupteten, die Köni- gin sey eine Menschenfresserin, das sey gewiß, und weil sie stumm war, konnte sie sich nicht vertheidigen, da ward sie verdammt auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Wie sie nun darauf stand, angebunden war, und das Feuer rings schon zu brennen anfing, da ward ihr Herz be- wegt und sie gedachte bei sich: "ach, wenn ich auch sterben müßte, wie gern wollt' ich der Jungfrau Maria vorher noch gestehen, daß ich die verbotene Thüre im Himmel aufgeschlossen habe, wie hab' ich so bös' gethan, das zu leug- nen!" Und wie sie das gedachte, in dem Au- genblick, da that sich der Himmel auf, und die Jungfrau Maria kam herunter, zu ihren Sei- ten die beiden ältesten Kinder, auf ihrem Arm das jüngste; das Feuer aber löschte sich von selbst aus, und sie trat zur Königin und sprach: "da du die Wahrheit hast sagen wollen, ist dir deine Schuld vergeben," und reichte ihr die Kinder, öffnete ihr den Mund, daß sie von nun an sprechen konnte, und verlieh ihr Glück auf ihr Lebtag.
bei der Luͤge beharren. Aber die Koͤnigin war nicht zu bewegen, und blieb bei ihrer Ausſage. Da verließ ſie die Jungfrau Maria, und nahm das juͤngſte Kind auch mit ſich.
Der Koͤnig konnte nun ſeine Raͤthe nicht laͤnger zuruͤckhalten, ſie behaupteten, die Koͤni- gin ſey eine Menſchenfreſſerin, das ſey gewiß, und weil ſie ſtumm war, konnte ſie ſich nicht vertheidigen, da ward ſie verdammt auf dem Scheiterhaufen zu ſterben. Wie ſie nun darauf ſtand, angebunden war, und das Feuer rings ſchon zu brennen anfing, da ward ihr Herz be- wegt und ſie gedachte bei ſich: „ach, wenn ich auch ſterben muͤßte, wie gern wollt' ich der Jungfrau Maria vorher noch geſtehen, daß ich die verbotene Thuͤre im Himmel aufgeſchloſſen habe, wie hab' ich ſo boͤſ' gethan, das zu leug- nen!“ Und wie ſie das gedachte, in dem Au- genblick, da that ſich der Himmel auf, und die Jungfrau Maria kam herunter, zu ihren Sei- ten die beiden aͤlteſten Kinder, auf ihrem Arm das juͤngſte; das Feuer aber loͤſchte ſich von ſelbſt aus, und ſie trat zur Koͤnigin und ſprach: „da du die Wahrheit haſt ſagen wollen, iſt dir deine Schuld vergeben,“ und reichte ihr die Kinder, oͤffnete ihr den Mund, daß ſie von nun an ſprechen konnte, und verlieh ihr Gluͤck auf ihr Lebtag.
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bei der Luͤge beharren. Aber die Koͤnigin war
nicht zu bewegen, und blieb bei ihrer Ausſage.
Da verließ ſie die Jungfrau Maria, und nahm
das juͤngſte Kind auch mit ſich.
Der Koͤnig konnte nun ſeine Raͤthe nicht
laͤnger zuruͤckhalten, ſie behaupteten, die Koͤni-
gin ſey eine Menſchenfreſſerin, das ſey gewiß,
und weil ſie ſtumm war, konnte ſie ſich nicht
vertheidigen, da ward ſie verdammt auf dem
Scheiterhaufen zu ſterben. Wie ſie nun darauf
ſtand, angebunden war, und das Feuer rings
ſchon zu brennen anfing, da ward ihr Herz be-
wegt und ſie gedachte bei ſich: „ach, wenn ich
auch ſterben muͤßte, wie gern wollt' ich der
Jungfrau Maria vorher noch geſtehen, daß ich
die verbotene Thuͤre im Himmel aufgeſchloſſen
habe, wie hab' ich ſo boͤſ' gethan, das zu leug-
nen!“ Und wie ſie das gedachte, in dem Au-
genblick, da that ſich der Himmel auf, und die
Jungfrau Maria kam herunter, zu ihren Sei-
ten die beiden aͤlteſten Kinder, auf ihrem Arm
das juͤngſte; das Feuer aber loͤſchte ſich von
ſelbſt aus, und ſie trat zur Koͤnigin und ſprach:
„da du die Wahrheit haſt ſagen wollen, iſt dir
deine Schuld vergeben,“ und reichte ihr die
Kinder, oͤffnete ihr den Mund, daß ſie von nun
an ſprechen konnte, und verlieh ihr Gluͤck auf
ihr Lebtag.
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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