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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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ist gewiß meine ältste Schwester, ließ sein Pferd
zurück, und ging auf sie zu: "liebste Schwester,
ich bin dein Bruder Reinald und bin gekom-
men dich zu besuchen." Die Prinzessin sah ihn
an, und da er ganz ihrem Vater glich, zweifelte
sie nicht an seinen Worten erschrack und sprach:
ach liebster Bruder, eil und lauf fort, was du
kannst, wenn dir dein Leben lieb ist, kommt
mein Mann, der Bär, nach Haus und findet
dich, so frißt er dich ohne Barmherzigkeit."
Reinald aber sprach: ich fürchte mich nicht und
weiche auch nicht von dir, bis ich weiß, wie es
um dich steht. Wie die Prinzessin sah, daß er
nicht zu bewegen war, führte sie ihn in ihre
Höle, die war finster und wie eine Bärenwoh-
nung; auf der einen Seite lag ein Haufen Laub
und Heu, worauf der Alte und seine Jungen
schliefen, aber auf der andern Seite stand ein
prächtiges Bett, von rothem Zeug mit Gold,
das gehörte der Prinzessin. Unter das Bett
hieß sie ihn kriechen, und reichte ihm etwas hin-
unter zu essen. Es dauerte nicht lang so kam
der Bär nach Haus: "ich wittre, wittre Men-
schenfleisch und wollte seinen dicken Kopf unter
das Bett stecken. Die Prinzessin aber rief:"
sey ruhig, wer soll hier hinein kommen! "Ich
hab ein Pferd im Wald gefunden und gefressen"
brummte er, und hatte noch eine blutige Schnau-
ze davon, "dazu gehört ein Mensch und den

iſt gewiß meine aͤltſte Schweſter, ließ ſein Pferd
zuruͤck, und ging auf ſie zu: „liebſte Schweſter,
ich bin dein Bruder Reinald und bin gekom-
men dich zu beſuchen.“ Die Prinzeſſin ſah ihn
an, und da er ganz ihrem Vater glich, zweifelte
ſie nicht an ſeinen Worten erſchrack und ſprach:
ach liebſter Bruder, eil und lauf fort, was du
kannſt, wenn dir dein Leben lieb iſt, kommt
mein Mann, der Baͤr, nach Haus und findet
dich, ſo frißt er dich ohne Barmherzigkeit.“
Reinald aber ſprach: ich fuͤrchte mich nicht und
weiche auch nicht von dir, bis ich weiß, wie es
um dich ſteht. Wie die Prinzeſſin ſah, daß er
nicht zu bewegen war, fuͤhrte ſie ihn in ihre
Hoͤle, die war finſter und wie eine Baͤrenwoh-
nung; auf der einen Seite lag ein Haufen Laub
und Heu, worauf der Alte und ſeine Jungen
ſchliefen, aber auf der andern Seite ſtand ein
praͤchtiges Bett, von rothem Zeug mit Gold,
das gehoͤrte der Prinzeſſin. Unter das Bett
hieß ſie ihn kriechen, und reichte ihm etwas hin-
unter zu eſſen. Es dauerte nicht lang ſo kam
der Baͤr nach Haus: „ich wittre, wittre Men-
ſchenfleiſch und wollte ſeinen dicken Kopf unter
das Bett ſtecken. Die Prinzeſſin aber rief:“
ſey ruhig, wer ſoll hier hinein kommen! „Ich
hab ein Pferd im Wald gefunden und gefreſſen“
brummte er, und hatte noch eine blutige Schnau-
ze davon, „dazu gehoͤrt ein Menſch und den

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[373/0407] iſt gewiß meine aͤltſte Schweſter, ließ ſein Pferd zuruͤck, und ging auf ſie zu: „liebſte Schweſter, ich bin dein Bruder Reinald und bin gekom- men dich zu beſuchen.“ Die Prinzeſſin ſah ihn an, und da er ganz ihrem Vater glich, zweifelte ſie nicht an ſeinen Worten erſchrack und ſprach: ach liebſter Bruder, eil und lauf fort, was du kannſt, wenn dir dein Leben lieb iſt, kommt mein Mann, der Baͤr, nach Haus und findet dich, ſo frißt er dich ohne Barmherzigkeit.“ Reinald aber ſprach: ich fuͤrchte mich nicht und weiche auch nicht von dir, bis ich weiß, wie es um dich ſteht. Wie die Prinzeſſin ſah, daß er nicht zu bewegen war, fuͤhrte ſie ihn in ihre Hoͤle, die war finſter und wie eine Baͤrenwoh- nung; auf der einen Seite lag ein Haufen Laub und Heu, worauf der Alte und ſeine Jungen ſchliefen, aber auf der andern Seite ſtand ein praͤchtiges Bett, von rothem Zeug mit Gold, das gehoͤrte der Prinzeſſin. Unter das Bett hieß ſie ihn kriechen, und reichte ihm etwas hin- unter zu eſſen. Es dauerte nicht lang ſo kam der Baͤr nach Haus: „ich wittre, wittre Men- ſchenfleiſch und wollte ſeinen dicken Kopf unter das Bett ſtecken. Die Prinzeſſin aber rief:“ ſey ruhig, wer ſoll hier hinein kommen! „Ich hab ein Pferd im Wald gefunden und gefreſſen“ brummte er, und hatte noch eine blutige Schnau- ze davon, „dazu gehoͤrt ein Menſch und den

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/407>, abgerufen am 11.06.2024.