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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Liebe, was es ihr nur an den Augen absehen
konnte. Sie aßen zusammen, und sie mußte
ihm aufschöpfen, sonst wollte es nicht essen, da
ward sie dem Thier hold, und endlich hatte sie
es recht lieb. Einmal sagte sie zu ihm: "mir
ist so Angst, ich weiß nicht recht warum, aber
mir ist, als wär mein Vater krank, oder eine
von meinen Schwestern, könnte ich sie nur ein
einzigesmal sehen!" Da führte sie das Thier
zu einem Spiegel und sagte: "da schau hin-
ein," und wie sie hineinschaute, war es recht
als wäre sie zu Haus; sie sah ihre Stube und
ihren Vater, der war wirklich krank, aus Her-
zeleid, weil er sich Schuld gab, daß sein lieb-
stes Kind von einem wilden Thier geraubt und
gar von ihm aufgefressen sey, hätt' er gewußt,
wie gut es ihm ging, so hätte er sich nicht be-
trübt; auch ihre zwei Schwestern sah sie am
Bett sitzen, die weinten. Von dem allen war
ihr Herz ganz schwer, und sie bat das Thier,
es sollte sie nur ein paar Tage wieder heim
gehen lassen. Das Thier wollte lange nicht, end-
lich aber, wie sie so jammerte, hatte es Mit-
leiden mit ihr und sagte: "geh hin zu deinem
Vater, aber versprich mir, daß du in acht Ta-
gen wieder da seyn willst. Sie versprach es
ihm, und als sie fort ging, rief es noch: "bleib
aber ja nicht länger als acht Tage aus."

Wie sie heim kam, freute sich ihr Vater,

Liebe, was es ihr nur an den Augen abſehen
konnte. Sie aßen zuſammen, und ſie mußte
ihm aufſchoͤpfen, ſonſt wollte es nicht eſſen, da
ward ſie dem Thier hold, und endlich hatte ſie
es recht lieb. Einmal ſagte ſie zu ihm: „mir
iſt ſo Angſt, ich weiß nicht recht warum, aber
mir iſt, als waͤr mein Vater krank, oder eine
von meinen Schweſtern, koͤnnte ich ſie nur ein
einzigesmal ſehen!“ Da fuͤhrte ſie das Thier
zu einem Spiegel und ſagte: „da ſchau hin-
ein,“ und wie ſie hineinſchaute, war es recht
als waͤre ſie zu Haus; ſie ſah ihre Stube und
ihren Vater, der war wirklich krank, aus Her-
zeleid, weil er ſich Schuld gab, daß ſein lieb-
ſtes Kind von einem wilden Thier geraubt und
gar von ihm aufgefreſſen ſey, haͤtt' er gewußt,
wie gut es ihm ging, ſo haͤtte er ſich nicht be-
truͤbt; auch ihre zwei Schweſtern ſah ſie am
Bett ſitzen, die weinten. Von dem allen war
ihr Herz ganz ſchwer, und ſie bat das Thier,
es ſollte ſie nur ein paar Tage wieder heim
gehen laſſen. Das Thier wollte lange nicht, end-
lich aber, wie ſie ſo jammerte, hatte es Mit-
leiden mit ihr und ſagte: „geh hin zu deinem
Vater, aber verſprich mir, daß du in acht Ta-
gen wieder da ſeyn willſt. Sie verſprach es
ihm, und als ſie fort ging, rief es noch: „bleib
aber ja nicht laͤnger als acht Tage aus.“

Wie ſie heim kam, freute ſich ihr Vater,

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[326/0360] Liebe, was es ihr nur an den Augen abſehen konnte. Sie aßen zuſammen, und ſie mußte ihm aufſchoͤpfen, ſonſt wollte es nicht eſſen, da ward ſie dem Thier hold, und endlich hatte ſie es recht lieb. Einmal ſagte ſie zu ihm: „mir iſt ſo Angſt, ich weiß nicht recht warum, aber mir iſt, als waͤr mein Vater krank, oder eine von meinen Schweſtern, koͤnnte ich ſie nur ein einzigesmal ſehen!“ Da fuͤhrte ſie das Thier zu einem Spiegel und ſagte: „da ſchau hin- ein,“ und wie ſie hineinſchaute, war es recht als waͤre ſie zu Haus; ſie ſah ihre Stube und ihren Vater, der war wirklich krank, aus Her- zeleid, weil er ſich Schuld gab, daß ſein lieb- ſtes Kind von einem wilden Thier geraubt und gar von ihm aufgefreſſen ſey, haͤtt' er gewußt, wie gut es ihm ging, ſo haͤtte er ſich nicht be- truͤbt; auch ihre zwei Schweſtern ſah ſie am Bett ſitzen, die weinten. Von dem allen war ihr Herz ganz ſchwer, und ſie bat das Thier, es ſollte ſie nur ein paar Tage wieder heim gehen laſſen. Das Thier wollte lange nicht, end- lich aber, wie ſie ſo jammerte, hatte es Mit- leiden mit ihr und ſagte: „geh hin zu deinem Vater, aber verſprich mir, daß du in acht Ta- gen wieder da ſeyn willſt. Sie verſprach es ihm, und als ſie fort ging, rief es noch: „bleib aber ja nicht laͤnger als acht Tage aus.“ Wie ſie heim kam, freute ſich ihr Vater,

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/360>, abgerufen am 24.11.2024.