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Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sucht, die sie fortzog, und weit umher das flache Land, hier schattig, dort hell; es lag so todt da, er meinte, ein Erdbeben müßte aufbrechen und Alles durcheinander werfen.

Seine Geschäfte unterbrachen diese öden Gedanken, aber sie verscheuchten sie nicht. Es drängte ihn fort. Nicht die Verzweiflung, daß Alles verloren sei, sondern die Hoffnung, daß er dennoch siegen werde, ließ ihn nicht zu Athem kommen. Drei Tage hielt er den Kampf aus, am vierten ritt er hinüber, er mußte Emma noch einmal sehen und sprechen. Diesmal kam er direct vor das Haus; aber die Laden des untern Geschosses waren dicht verschlossen, die Hühner irrten im Hofe umher, und eine Flucht Spatzen schnurrte vom Boden auf in die tief belaubten Kastanien. Das war Alles, was er von Leben sah; es fiel ihm nun ein, daß sie abgereis't sein müßten. Die Haushälterin sagte ihm, sie würden wohl noch in der Stadt sein, wo sie sich eine Woche hätten aufhalten wollen. Wie schoß ihm das freudig durch das Herz! Sie waren noch zu erreichen, er mußte sie sehen; es war kein Haltens mehr, halb im Trabe, halb galoppirend erreichte er sein Haus wieder, traf die nöthigen Anordnungen, packte seine Sachen ein und war so selig, als hätte ihm Emma geschrieben, daß er eilen solle, um sie noch zu sehen.

Angekommen in der Stadt, hatte er bald die Wohnung der Tante erfragt und gefunden. Es war

sucht, die sie fortzog, und weit umher das flache Land, hier schattig, dort hell; es lag so todt da, er meinte, ein Erdbeben müßte aufbrechen und Alles durcheinander werfen.

Seine Geschäfte unterbrachen diese öden Gedanken, aber sie verscheuchten sie nicht. Es drängte ihn fort. Nicht die Verzweiflung, daß Alles verloren sei, sondern die Hoffnung, daß er dennoch siegen werde, ließ ihn nicht zu Athem kommen. Drei Tage hielt er den Kampf aus, am vierten ritt er hinüber, er mußte Emma noch einmal sehen und sprechen. Diesmal kam er direct vor das Haus; aber die Laden des untern Geschosses waren dicht verschlossen, die Hühner irrten im Hofe umher, und eine Flucht Spatzen schnurrte vom Boden auf in die tief belaubten Kastanien. Das war Alles, was er von Leben sah; es fiel ihm nun ein, daß sie abgereis't sein müßten. Die Haushälterin sagte ihm, sie würden wohl noch in der Stadt sein, wo sie sich eine Woche hätten aufhalten wollen. Wie schoß ihm das freudig durch das Herz! Sie waren noch zu erreichen, er mußte sie sehen; es war kein Haltens mehr, halb im Trabe, halb galoppirend erreichte er sein Haus wieder, traf die nöthigen Anordnungen, packte seine Sachen ein und war so selig, als hätte ihm Emma geschrieben, daß er eilen solle, um sie noch zu sehen.

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[0044] sucht, die sie fortzog, und weit umher das flache Land, hier schattig, dort hell; es lag so todt da, er meinte, ein Erdbeben müßte aufbrechen und Alles durcheinander werfen. Seine Geschäfte unterbrachen diese öden Gedanken, aber sie verscheuchten sie nicht. Es drängte ihn fort. Nicht die Verzweiflung, daß Alles verloren sei, sondern die Hoffnung, daß er dennoch siegen werde, ließ ihn nicht zu Athem kommen. Drei Tage hielt er den Kampf aus, am vierten ritt er hinüber, er mußte Emma noch einmal sehen und sprechen. Diesmal kam er direct vor das Haus; aber die Laden des untern Geschosses waren dicht verschlossen, die Hühner irrten im Hofe umher, und eine Flucht Spatzen schnurrte vom Boden auf in die tief belaubten Kastanien. Das war Alles, was er von Leben sah; es fiel ihm nun ein, daß sie abgereis't sein müßten. Die Haushälterin sagte ihm, sie würden wohl noch in der Stadt sein, wo sie sich eine Woche hätten aufhalten wollen. Wie schoß ihm das freudig durch das Herz! Sie waren noch zu erreichen, er mußte sie sehen; es war kein Haltens mehr, halb im Trabe, halb galoppirend erreichte er sein Haus wieder, traf die nöthigen Anordnungen, packte seine Sachen ein und war so selig, als hätte ihm Emma geschrieben, daß er eilen solle, um sie noch zu sehen. Angekommen in der Stadt, hatte er bald die Wohnung der Tante erfragt und gefunden. Es war

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/44>, abgerufen am 27.04.2024.