Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ergriff des jungen Mannes Hand und fragte bewegt: Was würden Sie jetzt thun an meiner Stelle? Reden Sie offen, wie ich es gethan habe! Sie sind viel jünger als ich. Ich kenne die Welt, ich bin unzähligen Charakteren begegnet, ich habe manchen Mann in Momenten gesehen, wo nichts verborgen bleiben konnte, jeder Nerv sich anspannte, jeder Gedanke seine Bewegung forderte: so lernte ich die Menschen kennen, und es bedarf jetzt nicht erst langen Studiums für mich, um Den zu enträthseln, den ich mir gegenüber habe. Glauben Sie mir, ich bin nicht oft so rückhaltlos gewesen, wie heute gegen Sie, aber ich fühlte, daß ich an Ihr Edelstes mich wenden durfte, daß ich Ihnen außerdem schuldig war, auch nicht eine vielleicht erlaubte Maske anzunehmen, mich aufgebrachter zu stellen, als ich in der That bin. Ich bin es nicht. Ich begreife Sie; Alles was ich bis heute von Ihnen sah und hörte, hat Ihnen nur meine Hochachtung erworben, und als Sie mir vorhin so leidenschaftlich in den Weg traten, da sprach Ihre Erregung eben so sehr für Sie, als jetzt Ihre Ruhe, mit der Sie mich anhören. Ich habe Ihnen wörtlich wiederholt, welche Fragen ich eben dort im Zimmer an meine Verlobte gestellt und wie sie mir geantwortet hat. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Ihnen kein Wort vom Gespräche verborgen blieb. Emma liebt Sie nicht. Urtheilen Sie jetzt frei: was würden Sie thun, wenn Sie an meiner Stelle wären -- was werden Sie thun in der Ihrigen? ergriff des jungen Mannes Hand und fragte bewegt: Was würden Sie jetzt thun an meiner Stelle? Reden Sie offen, wie ich es gethan habe! Sie sind viel jünger als ich. Ich kenne die Welt, ich bin unzähligen Charakteren begegnet, ich habe manchen Mann in Momenten gesehen, wo nichts verborgen bleiben konnte, jeder Nerv sich anspannte, jeder Gedanke seine Bewegung forderte: so lernte ich die Menschen kennen, und es bedarf jetzt nicht erst langen Studiums für mich, um Den zu enträthseln, den ich mir gegenüber habe. Glauben Sie mir, ich bin nicht oft so rückhaltlos gewesen, wie heute gegen Sie, aber ich fühlte, daß ich an Ihr Edelstes mich wenden durfte, daß ich Ihnen außerdem schuldig war, auch nicht eine vielleicht erlaubte Maske anzunehmen, mich aufgebrachter zu stellen, als ich in der That bin. Ich bin es nicht. Ich begreife Sie; Alles was ich bis heute von Ihnen sah und hörte, hat Ihnen nur meine Hochachtung erworben, und als Sie mir vorhin so leidenschaftlich in den Weg traten, da sprach Ihre Erregung eben so sehr für Sie, als jetzt Ihre Ruhe, mit der Sie mich anhören. Ich habe Ihnen wörtlich wiederholt, welche Fragen ich eben dort im Zimmer an meine Verlobte gestellt und wie sie mir geantwortet hat. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Ihnen kein Wort vom Gespräche verborgen blieb. Emma liebt Sie nicht. Urtheilen Sie jetzt frei: was würden Sie thun, wenn Sie an meiner Stelle wären — was werden Sie thun in der Ihrigen? <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0037"/> ergriff des jungen Mannes Hand und fragte bewegt: Was würden Sie jetzt thun an meiner Stelle? Reden Sie offen, wie ich es gethan habe! Sie sind viel jünger als ich. Ich kenne die Welt, ich bin unzähligen Charakteren begegnet, ich habe manchen Mann in Momenten gesehen, wo nichts verborgen bleiben konnte, jeder Nerv sich anspannte, jeder Gedanke seine Bewegung forderte: so lernte ich die Menschen kennen, und es bedarf jetzt nicht erst langen Studiums für mich, um Den zu enträthseln, den ich mir gegenüber habe. Glauben Sie mir, ich bin nicht oft so rückhaltlos gewesen, wie heute gegen Sie, aber ich fühlte, daß ich an Ihr Edelstes mich wenden durfte, daß ich Ihnen außerdem schuldig war, auch nicht eine vielleicht erlaubte Maske anzunehmen, mich aufgebrachter zu stellen, als ich in der That bin. Ich bin es nicht. Ich begreife Sie; Alles was ich bis heute von Ihnen sah und hörte, hat Ihnen nur meine Hochachtung erworben, und als Sie mir vorhin so leidenschaftlich in den Weg traten, da sprach Ihre Erregung eben so sehr für Sie, als jetzt Ihre Ruhe, mit der Sie mich anhören. Ich habe Ihnen wörtlich wiederholt, welche Fragen ich eben dort im Zimmer an meine Verlobte gestellt und wie sie mir geantwortet hat. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Ihnen kein Wort vom Gespräche verborgen blieb. Emma liebt Sie nicht. Urtheilen Sie jetzt frei: was würden Sie thun, wenn Sie an meiner Stelle wären — was werden Sie thun in der Ihrigen?</p><lb/><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0037]
ergriff des jungen Mannes Hand und fragte bewegt: Was würden Sie jetzt thun an meiner Stelle? Reden Sie offen, wie ich es gethan habe! Sie sind viel jünger als ich. Ich kenne die Welt, ich bin unzähligen Charakteren begegnet, ich habe manchen Mann in Momenten gesehen, wo nichts verborgen bleiben konnte, jeder Nerv sich anspannte, jeder Gedanke seine Bewegung forderte: so lernte ich die Menschen kennen, und es bedarf jetzt nicht erst langen Studiums für mich, um Den zu enträthseln, den ich mir gegenüber habe. Glauben Sie mir, ich bin nicht oft so rückhaltlos gewesen, wie heute gegen Sie, aber ich fühlte, daß ich an Ihr Edelstes mich wenden durfte, daß ich Ihnen außerdem schuldig war, auch nicht eine vielleicht erlaubte Maske anzunehmen, mich aufgebrachter zu stellen, als ich in der That bin. Ich bin es nicht. Ich begreife Sie; Alles was ich bis heute von Ihnen sah und hörte, hat Ihnen nur meine Hochachtung erworben, und als Sie mir vorhin so leidenschaftlich in den Weg traten, da sprach Ihre Erregung eben so sehr für Sie, als jetzt Ihre Ruhe, mit der Sie mich anhören. Ich habe Ihnen wörtlich wiederholt, welche Fragen ich eben dort im Zimmer an meine Verlobte gestellt und wie sie mir geantwortet hat. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Ihnen kein Wort vom Gespräche verborgen blieb. Emma liebt Sie nicht. Urtheilen Sie jetzt frei: was würden Sie thun, wenn Sie an meiner Stelle wären — was werden Sie thun in der Ihrigen?
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/37>, abgerufen am 16.07.2024. |