Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sie zu rühren, sondern stellte ihr einfach seine sonnenlosen Jahre voll Gedanken an die Heimath vor die Seele. Freilich, daß er einmal in Neapel in die französische Gesandtin verliebt gewesen und ihretwegen ein Duell gehabt hatte, das erzählte er nicht, und einiges Andere dergleichen verschwieg er gleichfalls, aber es war kein Unrecht dabei, und was brauchte das Kind das zu wissen? Emma aber, wenn sie sich in diesem Augenblick erinnert hätte, auch nur aus der Ferne einen Bauernjungen zu freundlich angesehen zu haben, sie hätte es ihm jetzt gestanden, als er neben ihr sitzend still fortsprach, ohne sie anzusehen. Es that ihr wohl, daß er vor sich auf den Boden sah, sie hob ihre Blicke, und seine Stirn schien ihr vornehm zu sein und sein Haar auch, das so zwanglos an ihr hergestrichen war. So also standen die Dinge; der Schmetterling war gefangen. -- Die beiden Schwestern lagen wieder in der dunkeln Kammer und sprachen miteinander. Zuerst aber schwiegen sie still. Therese löschte das Licht aus, und Jede hörte, wie die Andere athmete. Da stand das Kind leise wieder auf und tappte zu seiner Schwester, umarmte sie und legte seine Wange an die ihrige. Emma war den ganzen Tag anders gewesen als sonst. Sie war mit ihrem Verlobten lange Zeit spazieren gegangen, dann hatte sie schweigsam dagesessen; sie sah aus wie eine Rose, die man gepflückt und eine Stunde sie zu rühren, sondern stellte ihr einfach seine sonnenlosen Jahre voll Gedanken an die Heimath vor die Seele. Freilich, daß er einmal in Neapel in die französische Gesandtin verliebt gewesen und ihretwegen ein Duell gehabt hatte, das erzählte er nicht, und einiges Andere dergleichen verschwieg er gleichfalls, aber es war kein Unrecht dabei, und was brauchte das Kind das zu wissen? Emma aber, wenn sie sich in diesem Augenblick erinnert hätte, auch nur aus der Ferne einen Bauernjungen zu freundlich angesehen zu haben, sie hätte es ihm jetzt gestanden, als er neben ihr sitzend still fortsprach, ohne sie anzusehen. Es that ihr wohl, daß er vor sich auf den Boden sah, sie hob ihre Blicke, und seine Stirn schien ihr vornehm zu sein und sein Haar auch, das so zwanglos an ihr hergestrichen war. So also standen die Dinge; der Schmetterling war gefangen. — Die beiden Schwestern lagen wieder in der dunkeln Kammer und sprachen miteinander. Zuerst aber schwiegen sie still. Therese löschte das Licht aus, und Jede hörte, wie die Andere athmete. Da stand das Kind leise wieder auf und tappte zu seiner Schwester, umarmte sie und legte seine Wange an die ihrige. Emma war den ganzen Tag anders gewesen als sonst. Sie war mit ihrem Verlobten lange Zeit spazieren gegangen, dann hatte sie schweigsam dagesessen; sie sah aus wie eine Rose, die man gepflückt und eine Stunde <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0017"/> sie zu rühren, sondern stellte ihr einfach seine sonnenlosen Jahre voll Gedanken an die Heimath vor die Seele. Freilich, daß er einmal in Neapel in die französische Gesandtin verliebt gewesen und ihretwegen ein Duell gehabt hatte, das erzählte er nicht, und einiges Andere dergleichen verschwieg er gleichfalls, aber es war kein Unrecht dabei, und was brauchte das Kind das zu wissen? Emma aber, wenn sie sich in diesem Augenblick erinnert hätte, auch nur aus der Ferne einen Bauernjungen zu freundlich angesehen zu haben, sie hätte es ihm jetzt gestanden, als er neben ihr sitzend still fortsprach, ohne sie anzusehen. Es that ihr wohl, daß er vor sich auf den Boden sah, sie hob ihre Blicke, und seine Stirn schien ihr vornehm zu sein und sein Haar auch, das so zwanglos an ihr hergestrichen war. </p><lb/> <p>So also standen die Dinge; der Schmetterling war gefangen. —</p><lb/> <p>Die beiden Schwestern lagen wieder in der dunkeln Kammer und sprachen miteinander. Zuerst aber schwiegen sie still. Therese löschte das Licht aus, und Jede hörte, wie die Andere athmete. Da stand das Kind leise wieder auf und tappte zu seiner Schwester, umarmte sie und legte seine Wange an die ihrige. Emma war den ganzen Tag anders gewesen als sonst. Sie war mit ihrem Verlobten lange Zeit spazieren gegangen, dann hatte sie schweigsam dagesessen; sie sah aus wie eine Rose, die man gepflückt und eine Stunde<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
sie zu rühren, sondern stellte ihr einfach seine sonnenlosen Jahre voll Gedanken an die Heimath vor die Seele. Freilich, daß er einmal in Neapel in die französische Gesandtin verliebt gewesen und ihretwegen ein Duell gehabt hatte, das erzählte er nicht, und einiges Andere dergleichen verschwieg er gleichfalls, aber es war kein Unrecht dabei, und was brauchte das Kind das zu wissen? Emma aber, wenn sie sich in diesem Augenblick erinnert hätte, auch nur aus der Ferne einen Bauernjungen zu freundlich angesehen zu haben, sie hätte es ihm jetzt gestanden, als er neben ihr sitzend still fortsprach, ohne sie anzusehen. Es that ihr wohl, daß er vor sich auf den Boden sah, sie hob ihre Blicke, und seine Stirn schien ihr vornehm zu sein und sein Haar auch, das so zwanglos an ihr hergestrichen war.
So also standen die Dinge; der Schmetterling war gefangen. —
Die beiden Schwestern lagen wieder in der dunkeln Kammer und sprachen miteinander. Zuerst aber schwiegen sie still. Therese löschte das Licht aus, und Jede hörte, wie die Andere athmete. Da stand das Kind leise wieder auf und tappte zu seiner Schwester, umarmte sie und legte seine Wange an die ihrige. Emma war den ganzen Tag anders gewesen als sonst. Sie war mit ihrem Verlobten lange Zeit spazieren gegangen, dann hatte sie schweigsam dagesessen; sie sah aus wie eine Rose, die man gepflückt und eine Stunde
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/17>, abgerufen am 17.02.2025. |