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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. partikelcomposition. -- part. mit nom.
3. 122, 3, 4. Boeth. 73. fer-sihteig Boeth. 134. 143; far-
saumeic (desidiosus) jun. 257; fir-wizi (fastus) ker. 120. firi-
wizleih (varius) ker. 86. 262. fir-wizi (curiositas) N. Cap.
90. firi-wizi wessobr. O. III. 20, 82. V. 18, 8. viri-wiz
(curiosus) mons. 354. 366; fir-wizeic jun. 182; fir-wurt (in-
teritus) ker. 57. 96. far-wurtei K. 38a for-wurt T. 90. Die
form anlangend, erhellt a) daß far-, fir-, fer- wechseln,
obgleich einzelne wörter nie far- und fer haben, nament-
lich fir-wizi, das sogar firi- gewährt und dadurch an furi-
erinnert; wäre es bloße assimilation des furi? oder ein
goth. fairi-, das freilich so wenig vorkommt als fauri?
b) weitere berührung mit furi- ergibt aber auch far-purt
statt des gewöhnlichern furi-purt. g) T. hat weder far-
noch fer-, sondern das ags. for-. d) mehrere wörter
schwanken zwischen far-, fer- und fra-, namentlich fer-
seß, fra-seß, daher sich auch neben fra-waß ein fer-waß
vermuthen läßt. e) die part. scheint bei den älteren
noch tonfähig, nicht bei N., welcher z. b. fer-seiht accen-
tuiert; auch setzt die schon frühere verkürzung in f'
tonlosigkeit voraus: v-lor (perditio) mons. 326. statt ver-
lor (mehr beispiele beim verbo). -- Mhd. bloß ver- und
gekürztes v-, beide vor dem nomen selten: ver-bunst
(invidia) Oberl. aus Barl., wo aber Köpke 160, 13. ur-
bunst; ver-gift MS. 2, 254a; ver-giht (consessio) Barl.;
ver-lust, v-lust; ver-nunft, -nunst; vir-witze Trist. 230b
(Hag.) -- nhd. ver-, ohne kürzung, in vielen wörtern,
die großentheils aus verbis derivieren können: ver-band;
-bot; -brauch; -dacht; -dienst; -druß; -gang; -hau;
-kauf; -kehr; -lauf; -lust; -nunft; -rath; -ruf; -satz;
-schlag; -schleiß; -weis, u. a. m., doch kein ver-witz, son-
dern vor-witz, für-witz. -- Der sinn dieser untrennbaren
partikel ist doppelt, a) bloß intensiv, d. h. was schon im
einfachen nomen liegt, hervorhebend; so in far-numft,
far-lust, ver-giht, ver-band, ver-dienst; manches simplex
kommt gar nicht ohne die part. vor, welches eben ein zei-
chen ihrer gelinden bedeutung ist. b) privativ, leugnend,
übel und verderbnis ausdrückend: fer-chunst, fir-ligari,
fer-siht, ver-bunst, ver-dacht, ver-ruf; wodurch sich
fair formell mit fairra (procul) fra und fram, materiell
mit a-, ab- upar- (ubar-ligida, adulterium jun. 195.) u.
a. m. berührt *). Grundbedeutung, worin sich beide sinne

*) ob außer f-lust, f-lor noch andere sl- aus sar-l. geleitet
werden können? oben s. 700. 701. für freßo und fraß aus far-eßo,
far-aß spricht außer dem mhd. ver-eßen das goth. af-etja (s. 707.).

III. partikelcompoſition. — part. mit nom.
3. 122, 3, 4. Boeth. 73. fër-ſihtîg Boeth. 134. 143; far-
ſûmîc (deſidioſus) jun. 257; fir-wizi (faſtus) ker. 120. firi-
wizlîh (varius) ker. 86. 262. fir-wizi (curioſitas) N. Cap.
90. firi-wizi weſſobr. O. III. 20, 82. V. 18, 8. viri-wiz
(curioſus) monſ. 354. 366; fir-wizîc jun. 182; fir-wurt (in-
teritus) ker. 57. 96. far-wurtî K. 38a for-wurt T. 90. Die
form anlangend, erhellt α) daß far-, fir-, fër- wechſeln,
obgleich einzelne wörter nie far- und fër haben, nament-
lich fir-wizi, das ſogar firi- gewährt und dadurch an furi-
erinnert; wäre es bloße aſſimilation des furi? oder ein
goth. faíri-, das freilich ſo wenig vorkommt als faúri?
β) weitere berührung mit furi- ergibt aber auch far-purt
ſtatt des gewöhnlichern furi-purt. γ) T. hat weder far-
noch fër-, ſondern das agſ. for-. δ) mehrere wörter
ſchwanken zwiſchen far-, fër- und fra-, namentlich fër-
ſëƷ, fra-ſëƷ, daher ſich auch neben fra-wâƷ ein fër-wâƷ
vermuthen läßt. ε) die part. ſcheint bei den älteren
noch tonfähig, nicht bei N., welcher z. b. fer-ſîht accen-
tuiert; auch ſetzt die ſchon frühere verkürzung in f'
tonloſigkeit voraus: v-lor (perditio) monſ. 326. ſtatt vër-
lor (mehr beiſpiele beim verbo). — Mhd. bloß ver- und
gekürztes v-, beide vor dem nomen ſelten: ver-bunſt
(invidia) Oberl. aus Barl., wo aber Köpke 160, 13. ur-
bunſt; ver-gift MS. 2, 254a; ver-giht (conſeſſio) Barl.;
ver-luſt, v-luſt; ver-nunft, -nunſt; vir-witze Triſt. 230b
(Hag.) — nhd. ver-, ohne kürzung, in vielen wörtern,
die großentheils aus verbis derivieren können: ver-band;
-bot; -brauch; -dacht; -dienſt; -druß; -gang; -hau;
-kauf; -kehr; -lauf; -luſt; -nunft; -rath; -ruf; -ſatz;
-ſchlag; -ſchleiß; -weis, u. a. m., doch kein ver-witz, ſon-
dern vor-witz, für-witz. — Der ſinn dieſer untrennbaren
partikel iſt doppelt, a) bloß intenſiv, d. h. was ſchon im
einfachen nomen liegt, hervorhebend; ſo in far-numft,
far-luſt, ver-giht, ver-band, ver-dienſt; manches ſimplex
kommt gar nicht ohne die part. vor, welches eben ein zei-
chen ihrer gelinden bedeutung iſt. b) privativ, leugnend,
übel und verderbnis ausdrückend: fër-chunſt, fir-ligari,
fër-ſiht, ver-bunſt, ver-dacht, ver-ruf; wodurch ſich
faír formell mit faírra (procul) fra und fram, materiell
mit â-, ab- upar- (ubar-ligida, adulterium jun. 195.) u.
a. m. berührt *). Grundbedeutung, worin ſich beide ſinne

*) ob außer f-luſt, f-lor noch andere ſl- aus ſar-l. geleitet
werden können? oben ſ. 700. 701. für frëƷo und frâƷ aus far-ëƷo,
far-âƷ ſpricht außer dem mhd. ver-ëƷƷen das goth. af-êtja (ſ. 707.).
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[725/0743] III. partikelcompoſition. — part. mit nom. 3. 122, 3, 4. Boeth. 73. fër-ſihtîg Boeth. 134. 143; far- ſûmîc (deſidioſus) jun. 257; fir-wizi (faſtus) ker. 120. firi- wizlîh (varius) ker. 86. 262. fir-wizi (curioſitas) N. Cap. 90. firi-wizi weſſobr. O. III. 20, 82. V. 18, 8. viri-wiz (curioſus) monſ. 354. 366; fir-wizîc jun. 182; fir-wurt (in- teritus) ker. 57. 96. far-wurtî K. 38a for-wurt T. 90. Die form anlangend, erhellt α) daß far-, fir-, fër- wechſeln, obgleich einzelne wörter nie far- und fër haben, nament- lich fir-wizi, das ſogar firi- gewährt und dadurch an furi- erinnert; wäre es bloße aſſimilation des furi? oder ein goth. faíri-, das freilich ſo wenig vorkommt als faúri? β) weitere berührung mit furi- ergibt aber auch far-purt ſtatt des gewöhnlichern furi-purt. γ) T. hat weder far- noch fër-, ſondern das agſ. for-. δ) mehrere wörter ſchwanken zwiſchen far-, fër- und fra-, namentlich fër- ſëƷ, fra-ſëƷ, daher ſich auch neben fra-wâƷ ein fër-wâƷ vermuthen läßt. ε) die part. ſcheint bei den älteren noch tonfähig, nicht bei N., welcher z. b. fer-ſîht accen- tuiert; auch ſetzt die ſchon frühere verkürzung in f' tonloſigkeit voraus: v-lor (perditio) monſ. 326. ſtatt vër- lor (mehr beiſpiele beim verbo). — Mhd. bloß ver- und gekürztes v-, beide vor dem nomen ſelten: ver-bunſt (invidia) Oberl. aus Barl., wo aber Köpke 160, 13. ur- bunſt; ver-gift MS. 2, 254a; ver-giht (conſeſſio) Barl.; ver-luſt, v-luſt; ver-nunft, -nunſt; vir-witze Triſt. 230b (Hag.) — nhd. ver-, ohne kürzung, in vielen wörtern, die großentheils aus verbis derivieren können: ver-band; -bot; -brauch; -dacht; -dienſt; -druß; -gang; -hau; -kauf; -kehr; -lauf; -luſt; -nunft; -rath; -ruf; -ſatz; -ſchlag; -ſchleiß; -weis, u. a. m., doch kein ver-witz, ſon- dern vor-witz, für-witz. — Der ſinn dieſer untrennbaren partikel iſt doppelt, a) bloß intenſiv, d. h. was ſchon im einfachen nomen liegt, hervorhebend; ſo in far-numft, far-luſt, ver-giht, ver-band, ver-dienſt; manches ſimplex kommt gar nicht ohne die part. vor, welches eben ein zei- chen ihrer gelinden bedeutung iſt. b) privativ, leugnend, übel und verderbnis ausdrückend: fër-chunſt, fir-ligari, fër-ſiht, ver-bunſt, ver-dacht, ver-ruf; wodurch ſich faír formell mit faírra (procul) fra und fram, materiell mit â-, ab- upar- (ubar-ligida, adulterium jun. 195.) u. a. m. berührt *). Grundbedeutung, worin ſich beide ſinne *) ob außer f-luſt, f-lor noch andere ſl- aus ſar-l. geleitet werden können? oben ſ. 700. 701. für frëƷo und frâƷ aus far-ëƷo, far-âƷ ſpricht außer dem mhd. ver-ëƷƷen das goth. af-êtja (ſ. 707.).

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 725. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/743>, abgerufen am 16.07.2024.