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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. laut u. ablaut. schlußbemerkungen.
mer das spätere. Damit stimmt die, so weit wir vom
oft verdunkelten und verlorenen sinne des urstamms zu
urtheilen vermögen, lebendigere, kräftigere bedeutung
des praesens. Übrigens reicht es hin, die wortbildungen
von dem laut und den ablauten abhängig zu machen
und ist meiner meinung ganz müßig, danach zu fragen,
von welchem einzelnen tempus und modus sie wirklich
abhängen? Die II. sg. imp. starker verba gewährt zwar
in der regel flexionslose wurzel, darum keine reinere,
als jede andere form des praesens gewährt. Man kann
nicht sagen, z. b. das subst. streit (pugna) stamme aus dem
imp. streit, so wenig als aus streite (pugno) oder streite
(pugnem) oder streiten (pugnare); vielmehr es stammt
aus dem in allen praesentialformen lebendigen wurzellaut.
Hierwider gilt auch nicht einzuwenden, daß z. b. wirbel
(vertex) sich nicht aus werben sondern nur aus wirp
oder aus wirbe, wirbet leiten laße. Es folgt ebenso
sicher aus werben oder werbe, da die an sich unwesent-
liche verwandlung des i in e bei der auf wesentlichen
lautverhältnissen beruhenden, weit früher erfolgten wort-
bildung nichts verschlägt. Oft hat sich nun in einzelnen
bildungen das alte i und u erhalten, z. b. in stirbeic (mor-
ticinus) guldin (aureus); in sterbe (pestis) golt (aurum)
und andern, einfacheren als jene, nicht; alth. gelten
helfa und hilfa, kepa und kipa nebeneinander, will man
jedes derselben auf eine verschiedene praes. form zurück-
führen? Dem Gothen gelten airp, aurp überall, neben
ilp, ulp; im alth. wechseln irf, urf, ilf, ulf ab mit erf,
orf, elf, olf; in den auf eine unwandelbare wurzel zu-
rückzuführenden wortbildungen dieser art verhält es sich
gerade eben so. Nicht anders müßen die ablaute des
praet. in bezug auf wortbildung genommen werden. --

e) bis hierher ungefähr führte die vergleichung der
bedeutung mit der form, d. h. dem lautenden und ablau-
tenden verhältnisse. Es laßen sich jedoch auch einige
wahrnehmungen mehr aus dem wesen der bedeutung
selbst schöpfen. Dahin rechne ich zunächst den grund-
satz: in der wurzel erscheint die sinnliche bedeutung
früher
, die geistige später. Nur aber war jene weder
rohleiblich, noch diese dürr verständig, beide hält und
hielt ein geheimer zug verbunden; zuerst wuchs das sinn-
liche, in ihm schlummerten die begriffe, aus ihm er-
wachten sie nach und nach. Ohne ihre wechselwirkung
wäre nicht wohl ursprüngliche bedeutsamkeit der wurzeln
denkbar. Könnte der geist seine begriffe in willkürlich

III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen.
mer das ſpätere. Damit ſtimmt die, ſo weit wir vom
oft verdunkelten und verlorenen ſinne des urſtamms zu
urtheilen vermögen, lebendigere, kräftigere bedeutung
des praeſens. Übrigens reicht es hin, die wortbildungen
von dem laut und den ablauten abhängig zu machen
und iſt meiner meinung ganz müßig, danach zu fragen,
von welchem einzelnen tempus und modus ſie wirklich
abhängen? Die II. ſg. imp. ſtarker verba gewährt zwar
in der regel flexionsloſe wurzel, darum keine reinere,
als jede andere form des praeſens gewährt. Man kann
nicht ſagen, z. b. das ſubſt. ſtrît (pugna) ſtamme aus dem
imp. ſtrît, ſo wenig als aus ſtrîte (pugno) oder ſtrîte
(pugnem) oder ſtrîten (pugnare); vielmehr es ſtammt
aus dem in allen praeſentialformen lebendigen wurzellaut.
Hierwider gilt auch nicht einzuwenden, daß z. b. wirbel
(vertex) ſich nicht aus wërben ſondern nur aus wirp
oder aus wirbe, wirbet leiten laße. Es folgt ebenſo
ſicher aus wërben oder wërbe, da die an ſich unweſent-
liche verwandlung des i in ë bei der auf weſentlichen
lautverhältniſſen beruhenden, weit früher erfolgten wort-
bildung nichts verſchlägt. Oft hat ſich nun in einzelnen
bildungen das alte i und u erhalten, z. b. in ſtirbîc (mor-
ticinus) guldìn (aureus); in ſtërbe (peſtis) golt (aurum)
und andern, einfacheren als jene, nicht; alth. gelten
hëlfa und hilfa, këpa und kipa nebeneinander, will man
jedes derſelben auf eine verſchiedene praeſ. form zurück-
führen? Dem Gothen gelten aírp, aúrp überall, neben
ilp, ulp; im alth. wechseln irf, urf, ilf, ulf ab mit ërf,
orf, ëlf, olf; in den auf eine unwandelbare wurzel zu-
rückzuführenden wortbildungen dieſer art verhält es ſich
gerade eben ſo. Nicht anders müßen die ablaute des
praet. in bezug auf wortbildung genommen werden. —

η) bis hierher ungefähr führte die vergleichung der
bedeutung mit der form, d. h. dem lautenden und ablau-
tenden verhältniſſe. Es laßen ſich jedoch auch einige
wahrnehmungen mehr aus dem weſen der bedeutung
ſelbſt ſchöpfen. Dahin rechne ich zunächſt den grund-
ſatz: in der wurzel erſcheint die ſinnliche bedeutung
früher
, die geiſtige ſpäter. Nur aber war jene weder
rohleiblich, noch dieſe dürr verſtändig, beide hält und
hielt ein geheimer zug verbunden; zuerſt wuchs das ſinn-
liche, in ihm ſchlummerten die begriffe, aus ihm er-
wachten ſie nach und nach. Ohne ihre wechſelwirkung
wäre nicht wohl urſprüngliche bedeutſamkeit der wurzeln
denkbar. Könnte der geiſt seine begriffe in willkürlich

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[84/0102] III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen. mer das ſpätere. Damit ſtimmt die, ſo weit wir vom oft verdunkelten und verlorenen ſinne des urſtamms zu urtheilen vermögen, lebendigere, kräftigere bedeutung des praeſens. Übrigens reicht es hin, die wortbildungen von dem laut und den ablauten abhängig zu machen und iſt meiner meinung ganz müßig, danach zu fragen, von welchem einzelnen tempus und modus ſie wirklich abhängen? Die II. ſg. imp. ſtarker verba gewährt zwar in der regel flexionsloſe wurzel, darum keine reinere, als jede andere form des praeſens gewährt. Man kann nicht ſagen, z. b. das ſubſt. ſtrît (pugna) ſtamme aus dem imp. ſtrît, ſo wenig als aus ſtrîte (pugno) oder ſtrîte (pugnem) oder ſtrîten (pugnare); vielmehr es ſtammt aus dem in allen praeſentialformen lebendigen wurzellaut. Hierwider gilt auch nicht einzuwenden, daß z. b. wirbel (vertex) ſich nicht aus wërben ſondern nur aus wirp oder aus wirbe, wirbet leiten laße. Es folgt ebenſo ſicher aus wërben oder wërbe, da die an ſich unweſent- liche verwandlung des i in ë bei der auf weſentlichen lautverhältniſſen beruhenden, weit früher erfolgten wort- bildung nichts verſchlägt. Oft hat ſich nun in einzelnen bildungen das alte i und u erhalten, z. b. in ſtirbîc (mor- ticinus) guldìn (aureus); in ſtërbe (peſtis) golt (aurum) und andern, einfacheren als jene, nicht; alth. gelten hëlfa und hilfa, këpa und kipa nebeneinander, will man jedes derſelben auf eine verſchiedene praeſ. form zurück- führen? Dem Gothen gelten aírp, aúrp überall, neben ilp, ulp; im alth. wechseln irf, urf, ilf, ulf ab mit ërf, orf, ëlf, olf; in den auf eine unwandelbare wurzel zu- rückzuführenden wortbildungen dieſer art verhält es ſich gerade eben ſo. Nicht anders müßen die ablaute des praet. in bezug auf wortbildung genommen werden. — η) bis hierher ungefähr führte die vergleichung der bedeutung mit der form, d. h. dem lautenden und ablau- tenden verhältniſſe. Es laßen ſich jedoch auch einige wahrnehmungen mehr aus dem weſen der bedeutung ſelbſt ſchöpfen. Dahin rechne ich zunächſt den grund- ſatz: in der wurzel erſcheint die ſinnliche bedeutung früher, die geiſtige ſpäter. Nur aber war jene weder rohleiblich, noch dieſe dürr verſtändig, beide hält und hielt ein geheimer zug verbunden; zuerſt wuchs das ſinn- liche, in ihm ſchlummerten die begriffe, aus ihm er- wachten ſie nach und nach. Ohne ihre wechſelwirkung wäre nicht wohl urſprüngliche bedeutſamkeit der wurzeln denkbar. Könnte der geiſt seine begriffe in willkürlich

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/102>, abgerufen am 21.11.2024.