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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. laut u. ablaut. schlußbemerkungen.
kommt, wie denn auch der vocal des plur. zur bildung
des ganzen conjunctivs (pl. und sg.), in einigen mund-
arten sogar zur II. sg. ind. gereicht. Eine stufung des
ablauts, die früher vielleicht gar ein eignes tempus be-
zeichnete, scheint sich auf den plur. eines anderen tem-
pus geworfen zu haben und nun mit ihm in die herr-
schaft zu theilen. Was verräth uns die wortbildung von
dem wesen dieser beiden stufen? Unseren ungeschärften
augen müßen sie freilich obenhin betrachtet gleichbedeu-
tend vorkommen, ja sie gelten häufig, indem der eine
dialect den ablaut des sg., der andere den des pl. anwen-
det, einerlei; das goth. tunthus (nr. 597.) das alth. zand;
das mhd. vanke (nr. 601.) das nhd. funke; so auch das
goth. baitrs (nr. 140.) das alth. pitar etc. begegnen sich
in der bedeutung. Doch nicht in allen wurzeln, auch
nicht in allen mundarten. Welch ein fühlbarer unter-
schied zwischen nhd. trank (potus) und trunk (haustus);
zwischen altn. beitr (acutus, schneidend) und bitr (acer-
bus, scharf); altn. (nr. 121.) greip (ansa) grip (raptus);
(nr. 128.) dreif (sparsio) drif (procella); (nr. 245.) alth.
tror (stilla), goth. drus (casus); ags. (nr. 262.) beah (an-
nulus) boga (arcus) und vielen ähnlichen. Mich dünkt,
wie der erste ablaut schon den begriff des urlauts min-
dere, und aus heller gegenwart in stillere vergangenheit
setze, daß der zweite ablaut die bedeutung wiederum
noch mehr abstumpfe, entstelle *) und gegen jenen gehal-
ten abstracter mache: bitr scheint weniger als beitr;
(nr. 205.) tropfo, tropf (stilla) weniger als troufa (stillici-
dium); (nr. 144.) vrits (apex literae) weniger als reißa
(linea exarata); und so vergleiche man ferner nr. 242.
rot (ruber) mit roten (leviter rubere); nr. 204. saup (po-
tio) mit sopi (haustus); nr. 221. nautr (consors) mit nuta
(captor); nr. 140. beit (pascuum) mit bit (morsus); nr. 145.
sleita (dissidium) mit sliß. Anderemahl fällt der sinn bei-
der ablaute wirklich zusammen, z. b. im goth. vaips und
vipja, die wenigstens Ulfilas beide für stephanos braucht.
Im alth. und mhd. bilden verba auf -ieß gewöhnlich
substantiva mit beiderlei ablaut: nr. 226. sloß (claustrum)
unterschieden von sluß (conclusio); nr. 230. schoß, ge-
schoß (jaculum) von schuß (jactus); nr. 221. genoß (so-

*) sonderbar, wenn sich aus einer wurzel die idee des bösen,
schädlichen hervorthut, daß diese wendung häufig erst mit dem
zweiten ablaute erfolgt, vgl. nr. 303. laga (insidiae) nr. 281. satr
(dolus) nr. 562. zala (fraus).

III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen.
kommt, wie denn auch der vocal des plur. zur bildung
des ganzen conjunctivs (pl. und ſg.), in einigen mund-
arten ſogar zur II. ſg. ind. gereicht. Eine ſtufung des
ablauts, die früher vielleicht gar ein eignes tempus be-
zeichnete, ſcheint ſich auf den plur. eines anderen tem-
pus geworfen zu haben und nun mit ihm in die herr-
ſchaft zu theilen. Was verräth uns die wortbildung von
dem weſen dieſer beiden ſtufen? Unſeren ungeſchärften
augen müßen ſie freilich obenhin betrachtet gleichbedeu-
tend vorkommen, ja ſie gelten häufig, indem der eine
dialect den ablaut des ſg., der andere den des pl. anwen-
det, einerlei; das goth. tunþus (nr. 597.) das alth. zand;
das mhd. vanke (nr. 601.) das nhd. funke; ſo auch das
goth. báitrs (nr. 140.) das alth. pitar etc. begegnen ſich
in der bedeutung. Doch nicht in allen wurzeln, auch
nicht in allen mundarten. Welch ein fühlbarer unter-
ſchied zwiſchen nhd. trank (potus) und trunk (hauſtus);
zwiſchen altn. beitr (acutus, ſchneidend) und bitr (acer-
bus, ſcharf); altn. (nr. 121.) greip (anſa) grip (raptus);
(nr. 128.) dreif (ſparſio) drif (procella); (nr. 245.) alth.
trôr (ſtilla), goth. drus (caſus); agſ. (nr. 262.) beáh (an-
nulus) boga (arcus) und vielen ähnlichen. Mich dünkt,
wie der erſte ablaut ſchon den begriff des urlauts min-
dere, und aus heller gegenwart in ſtillere vergangenheit
ſetze, daß der zweite ablaut die bedeutung wiederum
noch mehr abſtumpfe, entſtelle *) und gegen jenen gehal-
ten abſtracter mache: bitr ſcheint weniger als beitr;
(nr. 205.) tropfo, tropf (ſtilla) weniger als troufa (ſtillici-
dium); (nr. 144.) vrits (apex literae) weniger als reiƷa
(linea exarata); und ſo vergleiche man ferner nr. 242.
rôt (ruber) mit roten (leviter rubere); nr. 204. ſaup (po-
tio) mit ſopi (hauſtus); nr. 221. nautr (conſors) mit nuta
(captor); nr. 140. beit (paſcuum) mit bit (morſus); nr. 145.
ſleita (diſſidium) mit ſliƷ. Anderemahl fällt der ſinn bei-
der ablaute wirklich zuſammen, z. b. im goth. váips und
vipja, die wenigſtens Ulfilas beide für στέφανος braucht.
Im alth. und mhd. bilden verba auf -ieƷ gewöhnlich
ſubſtantiva mit beiderlei ablaut: nr. 226. ſlôƷ (clauſtrum)
unterſchieden von ſluƷ (concluſio); nr. 230. ſchôƷ, ge-
ſchôƷ (jaculum) von ſchuƷ (jactus); nr. 221. genôƷ (ſo-

*) ſonderbar, wenn ſich aus einer wurzel die idee des böſen,
ſchädlichen hervorthut, daß dieſe wendung häufig erſt mit dem
zweiten ablaute erfolgt, vgl. nr. 303. lâga (inſidiae) nr. 281. ſâtr
(dolus) nr. 562. zâla (fraus).
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[82/0100] III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen. kommt, wie denn auch der vocal des plur. zur bildung des ganzen conjunctivs (pl. und ſg.), in einigen mund- arten ſogar zur II. ſg. ind. gereicht. Eine ſtufung des ablauts, die früher vielleicht gar ein eignes tempus be- zeichnete, ſcheint ſich auf den plur. eines anderen tem- pus geworfen zu haben und nun mit ihm in die herr- ſchaft zu theilen. Was verräth uns die wortbildung von dem weſen dieſer beiden ſtufen? Unſeren ungeſchärften augen müßen ſie freilich obenhin betrachtet gleichbedeu- tend vorkommen, ja ſie gelten häufig, indem der eine dialect den ablaut des ſg., der andere den des pl. anwen- det, einerlei; das goth. tunþus (nr. 597.) das alth. zand; das mhd. vanke (nr. 601.) das nhd. funke; ſo auch das goth. báitrs (nr. 140.) das alth. pitar etc. begegnen ſich in der bedeutung. Doch nicht in allen wurzeln, auch nicht in allen mundarten. Welch ein fühlbarer unter- ſchied zwiſchen nhd. trank (potus) und trunk (hauſtus); zwiſchen altn. beitr (acutus, ſchneidend) und bitr (acer- bus, ſcharf); altn. (nr. 121.) greip (anſa) grip (raptus); (nr. 128.) dreif (ſparſio) drif (procella); (nr. 245.) alth. trôr (ſtilla), goth. drus (caſus); agſ. (nr. 262.) beáh (an- nulus) boga (arcus) und vielen ähnlichen. Mich dünkt, wie der erſte ablaut ſchon den begriff des urlauts min- dere, und aus heller gegenwart in ſtillere vergangenheit ſetze, daß der zweite ablaut die bedeutung wiederum noch mehr abſtumpfe, entſtelle *) und gegen jenen gehal- ten abſtracter mache: bitr ſcheint weniger als beitr; (nr. 205.) tropfo, tropf (ſtilla) weniger als troufa (ſtillici- dium); (nr. 144.) vrits (apex literae) weniger als reiƷa (linea exarata); und ſo vergleiche man ferner nr. 242. rôt (ruber) mit roten (leviter rubere); nr. 204. ſaup (po- tio) mit ſopi (hauſtus); nr. 221. nautr (conſors) mit nuta (captor); nr. 140. beit (paſcuum) mit bit (morſus); nr. 145. ſleita (diſſidium) mit ſliƷ. Anderemahl fällt der ſinn bei- der ablaute wirklich zuſammen, z. b. im goth. váips und vipja, die wenigſtens Ulfilas beide für στέφανος braucht. Im alth. und mhd. bilden verba auf -ieƷ gewöhnlich ſubſtantiva mit beiderlei ablaut: nr. 226. ſlôƷ (clauſtrum) unterſchieden von ſluƷ (concluſio); nr. 230. ſchôƷ, ge- ſchôƷ (jaculum) von ſchuƷ (jactus); nr. 221. genôƷ (ſo- *) ſonderbar, wenn ſich aus einer wurzel die idee des böſen, ſchädlichen hervorthut, daß dieſe wendung häufig erſt mit dem zweiten ablaute erfolgt, vgl. nr. 303. lâga (inſidiae) nr. 281. ſâtr (dolus) nr. 562. zâla (fraus).

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/100>, abgerufen am 02.05.2024.