(auris). iumjo (multitudo). niun (novem). siuns (visio) iup (sursum). diups (profundus). hniupan (rumpere). stiurs (juvencus). us-stiuriba (asotos). qvins (vivus). thius (famulus). kiusan (eligere). liusan (perdere). kriu- stan (trizein). giutan (sundere). liuta (hypocrita). niutan (capere). thiuths (agathos). liuth (cantus). dius (sera, muth- maßung st. dihs, dat. pl. dihzam Marc. 1, 13.). -- Die entsprechenden laute sind im alth. iu, io (ia) und au; im angels. eo und y, im nord. iu. y, io, au etc.; schon das goth. iu und u berühren sich (laukan, claudere, st. liukan) (erst liukan, dann liukan). Hierher gehört auch das lat. lange u in lux (liuhath), dauco (tiuha); den übergang in iv bestätiget veivus (qvius, qvivis) und selbst novus, novem (beide kurzes o) vergl. mit niuja, niun wobei die wandlungen des o in langes und kurzes i (Schneider p. 18.) und das gr. neos, ennea erwägung verdienen.
Dies sind die goth. vocale. Von einem umlaut der- selben keine spur; namentlich die wurzeln a, e, au wer- den durch ein in der endung folgendes i oder ei nicht im mindesten getrübt, es heißt aha (mens), ahins, ahjan; balgs, balgeis, balgim; deds, dedja; rauna, garauni. Sollte aber doch eine veränderung des lauts eingetreten seyn, die Ulphilas nicht schrieb, oder nicht schreiben konnte? Unglaublich: jenes, weil seine schrift sonst so viel feines und genaues zeigt; dieses, weil er sehr wohl belgeis, belgim hätte schreiben und die unterscheidung eines e und e eben so gut seinen lesern zutrauen dür- fen, als die des u und au. Denn wäre ein umlaut vor- handen gewesen, so müste das e der aussprache des e immer näher gewesen seyn, als der des a und dieses hätte seinen lesern mehr unbequemlichkeit verursacht. Sich die laute, die man für umlaute des e und au gelten laßen wollte, klar zu denken, wäre auch nicht leicht; vermuthlich lag die aussprache des goth. e dem alth. ae näher als dessen grundlaute, dem a. Das alth. au scheint manchmahl offenbare abweichung aus einem älteren iu und daß es anderemahl in iu umlautet, ge- stattet noch keine gleichsetzung des letztern mit dem goth. iu, da vielleicht beiderlei diphthongen zu unter- scheiden sind. Ich bilde mir also ein, daß der Gothe gar keinen umlaut hatte und erkläre es sehr wohl aus meiner oben angeführten ansicht von dem wesen des umlauts überhaupt. -- Die schon im goth. vorhan-
D 2
I. gothiſche vocale.
(auris). ïumjô (multitudo). niun (novem). ſiuns (viſio) ïup (ſurſum). diups (profundus). hniupan (rumpere). ſtiurs (juvencus). us-ſtiuriba (ἄσώτως). qvins (vivus). þius (famulus). kiuſan (eligere). liuſan (perdere). kriu- ſtan (τρίζειν). giutan (ſundere). liuta (hypocrita). niutan (capere). þiuþs (ἀγαθὸς). liuþ (cantus). dius (ſera, muth- maßung ſt. dihs, dat. pl. dihzam Marc. 1, 13.). — Die entſprechenden laute ſind im alth. iu, io (ia) und û; im angelſ. eó und ŷ, im nord. iu. ŷ, io, û etc.; ſchon das goth. iu und u berühren ſich (lûkan, claudere, ſt. liukan) (erſt líukan, dann liúkan). Hierher gehört auch das lat. lange u in lùx (liuhaþ), dûco (tiuha); den übergang in iv beſtätiget vîvus (qvius, qvivis) und ſelbſt novus, novem (beide kurzes o) vergl. mit niuja, niun wobei die wandlungen des o in langes und kurzes i (Schneider p. 18.) und das gr. νέος, ἐννέα erwägung verdienen.
Dies ſind die goth. vocale. Von einem umlaut der- ſelben keine ſpur; namentlich die wurzeln a, ê, û wer- den durch ein in der endung folgendes i oder ei nicht im mindeſten getrübt, es heißt aha (mens), ahins, ahjan; balgs, balgeis, balgim; dêds, dêdja; rûna, garûni. Sollte aber doch eine veränderung des lauts eingetreten ſeyn, die Ulphilas nicht ſchrieb, oder nicht ſchreiben konnte? Unglaublich: jenes, weil ſeine ſchrift ſonſt ſo viel feines und genaues zeigt; dieſes, weil er ſehr wohl belgeis, belgim hätte ſchreiben und die unterſcheidung eines e und ê eben ſo gut ſeinen leſern zutrauen dür- fen, als die des u und û. Denn wäre ein umlaut vor- handen geweſen, ſo müſte das e der ausſprache des ê immer näher geweſen ſeyn, als der des a und dieſes hätte ſeinen leſern mehr unbequemlichkeit verurſacht. Sich die laute, die man für umlaute des ê und û gelten laßen wollte, klar zu denken, wäre auch nicht leicht; vermuthlich lag die ausſprache des goth. ê dem alth. æ näher als deſſen grundlaute, dem â. Das alth. û ſcheint manchmahl offenbare abweichung aus einem älteren iu und daß es anderemahl in iu umlautet, ge- ſtattet noch keine gleichſetzung des letztern mit dem goth. ïu, da vielleicht beiderlei diphthongen zu unter- ſcheiden ſind. Ich bilde mir alſo ein, daß der Gothe gar keinen umlaut hatte und erkläre es ſehr wohl aus meiner oben angeführten anſicht von dem weſen des umlauts überhaupt. — Die ſchon im goth. vorhan-
D 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0077"n="51"/><fwplace="top"type="header">I. <hirendition="#i">gothiſche vocale.</hi></fw><lb/>
(auris). ïumjô (multitudo). niun (novem). ſiuns (viſio)<lb/>
ïup (ſurſum). diups (profundus). hniupan (rumpere).<lb/>ſtiurs (juvencus). us-ſtiuriba (<hirendition="#i">ἄσώτως</hi>). qvins (vivus).<lb/>
þius (famulus). kiuſan (eligere). liuſan (perdere). kriu-<lb/>ſtan (<hirendition="#i">τρίζειν</hi>). giutan (ſundere). liuta (hypocrita). niutan<lb/>
(capere). þiuþs (<hirendition="#i">ἀγαθὸς</hi>). liuþ (cantus). dius (ſera, muth-<lb/>
maßung ſt. dihs, dat. pl. dihzam Marc. 1, 13.). — Die<lb/>
entſprechenden laute ſind im alth. iu, io (ia) und û;<lb/>
im angelſ. eó und ŷ, im nord. iu. ŷ, io, û etc.; ſchon<lb/>
das goth. iu und u berühren ſich (lûkan, claudere, ſt.<lb/>
liukan) (erſt líukan, dann liúkan). Hierher gehört auch<lb/>
das lat. lange u in lùx (liuhaþ), dûco (tiuha); den<lb/>
übergang in <hirendition="#i">iv</hi> beſtätiget vîvus (qvius, qvivis) und ſelbſt<lb/>
novus, novem (beide kurzes o) vergl. mit niuja, niun<lb/>
wobei die wandlungen des o in langes und kurzes i<lb/>
(Schneider p. 18.) und das gr. <hirendition="#i">νέος, ἐννέα</hi> erwägung<lb/>
verdienen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Dies ſind die goth. vocale. Von einem <hirendition="#i">umlaut</hi> der-<lb/>ſelben keine ſpur; namentlich die wurzeln a, ê, û wer-<lb/>
den durch ein in der endung folgendes i oder ei nicht<lb/>
im mindeſten getrübt, es heißt aha (mens), ahins,<lb/>
ahjan; balgs, balgeis, balgim; dêds, dêdja; rûna, garûni.<lb/>
Sollte aber doch eine veränderung des lauts eingetreten<lb/>ſeyn, die Ulphilas nicht ſchrieb, oder nicht ſchreiben<lb/>
konnte? Unglaublich: jenes, weil ſeine ſchrift ſonſt ſo<lb/>
viel feines und genaues zeigt; dieſes, weil er ſehr wohl<lb/>
belgeis, belgim hätte ſchreiben und die unterſcheidung<lb/>
eines e und ê eben ſo gut ſeinen leſern zutrauen dür-<lb/>
fen, als die des u und û. Denn wäre ein umlaut vor-<lb/>
handen geweſen, ſo müſte das e der ausſprache des ê<lb/>
immer näher geweſen ſeyn, als der des a und dieſes<lb/>
hätte ſeinen leſern mehr unbequemlichkeit verurſacht.<lb/>
Sich die laute, die man für umlaute des ê und û gelten<lb/>
laßen wollte, klar zu denken, wäre auch nicht leicht;<lb/>
vermuthlich lag die ausſprache des goth. ê dem alth.<lb/>
æ näher als deſſen grundlaute, dem â. Das alth. û<lb/>ſcheint manchmahl offenbare abweichung aus einem<lb/>
älteren <hirendition="#i">iu</hi> und daß es anderemahl in <hirendition="#i">iu</hi> umlautet, ge-<lb/>ſtattet noch keine gleichſetzung des letztern mit dem<lb/>
goth. <hirendition="#i">ïu</hi>, da vielleicht beiderlei diphthongen zu unter-<lb/>ſcheiden ſind. Ich bilde mir alſo ein, daß der Gothe<lb/>
gar keinen umlaut hatte und erkläre es ſehr wohl aus<lb/>
meiner oben angeführten anſicht von dem weſen des<lb/>
umlauts überhaupt. — Die ſchon im goth. vorhan-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D 2</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[51/0077]
I. gothiſche vocale.
(auris). ïumjô (multitudo). niun (novem). ſiuns (viſio)
ïup (ſurſum). diups (profundus). hniupan (rumpere).
ſtiurs (juvencus). us-ſtiuriba (ἄσώτως). qvins (vivus).
þius (famulus). kiuſan (eligere). liuſan (perdere). kriu-
ſtan (τρίζειν). giutan (ſundere). liuta (hypocrita). niutan
(capere). þiuþs (ἀγαθὸς). liuþ (cantus). dius (ſera, muth-
maßung ſt. dihs, dat. pl. dihzam Marc. 1, 13.). — Die
entſprechenden laute ſind im alth. iu, io (ia) und û;
im angelſ. eó und ŷ, im nord. iu. ŷ, io, û etc.; ſchon
das goth. iu und u berühren ſich (lûkan, claudere, ſt.
liukan) (erſt líukan, dann liúkan). Hierher gehört auch
das lat. lange u in lùx (liuhaþ), dûco (tiuha); den
übergang in iv beſtätiget vîvus (qvius, qvivis) und ſelbſt
novus, novem (beide kurzes o) vergl. mit niuja, niun
wobei die wandlungen des o in langes und kurzes i
(Schneider p. 18.) und das gr. νέος, ἐννέα erwägung
verdienen.
Dies ſind die goth. vocale. Von einem umlaut der-
ſelben keine ſpur; namentlich die wurzeln a, ê, û wer-
den durch ein in der endung folgendes i oder ei nicht
im mindeſten getrübt, es heißt aha (mens), ahins,
ahjan; balgs, balgeis, balgim; dêds, dêdja; rûna, garûni.
Sollte aber doch eine veränderung des lauts eingetreten
ſeyn, die Ulphilas nicht ſchrieb, oder nicht ſchreiben
konnte? Unglaublich: jenes, weil ſeine ſchrift ſonſt ſo
viel feines und genaues zeigt; dieſes, weil er ſehr wohl
belgeis, belgim hätte ſchreiben und die unterſcheidung
eines e und ê eben ſo gut ſeinen leſern zutrauen dür-
fen, als die des u und û. Denn wäre ein umlaut vor-
handen geweſen, ſo müſte das e der ausſprache des ê
immer näher geweſen ſeyn, als der des a und dieſes
hätte ſeinen leſern mehr unbequemlichkeit verurſacht.
Sich die laute, die man für umlaute des ê und û gelten
laßen wollte, klar zu denken, wäre auch nicht leicht;
vermuthlich lag die ausſprache des goth. ê dem alth.
æ näher als deſſen grundlaute, dem â. Das alth. û
ſcheint manchmahl offenbare abweichung aus einem
älteren iu und daß es anderemahl in iu umlautet, ge-
ſtattet noch keine gleichſetzung des letztern mit dem
goth. ïu, da vielleicht beiderlei diphthongen zu unter-
ſcheiden ſind. Ich bilde mir alſo ein, daß der Gothe
gar keinen umlaut hatte und erkläre es ſehr wohl aus
meiner oben angeführten anſicht von dem weſen des
umlauts überhaupt. — Die ſchon im goth. vorhan-
D 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/77>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.