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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. gothische vocale.

(U) u drückt in den beibehaltenen eigennamen
stets das gr. ou (ou) aus, z. b. Sausanna, Sousanna, lairau-
salem, Ierousalem (wogegen die nebenform Ierosoluma
durch lairausaulyma gegeben wird, einigemahl schwankt
Ulph. zwischen beiden, vielleicht nach schwankenden
gr. lesarten); Fanauel phanouel etc., hiernach hat es im
goth. gedehnten laut. In ächtgothischen wörtern macht
aber die geltung dieses vocals schwierigkeit. Für einen
doppellaut sollte man ihn halten 1) weil die rune aur,
mit deren gestalt das goth. schriftzeichen (n) stimmt, vor-
zugsweise den gedehnten laut ausdrückt. 2) wegen je-
nes gr. ou. 3) wegen des entsprechenden alth. und nord.
au. Letzterer grund gibt zugleich den einwurf her: war-
um zeigen andere und zwar zahlreichere alth. u. nord.
wörter ein u oder o, jedenfalls einen kurzen laut, in
welchen derselbe goth. buchstab steht? Daß er dann kei-
nen diphth. ausdrücke zeigt auch die folgende gemina-
tion, z. b. in brunna.

Dieses nöthigt zu der annahme eines zweifachen
goth. u, obschon Ulph. beide mit einem zeichen
schreibt *), welches nicht schlimmer ist, als wenn auch
Lateiner und Griechen ihr langes und kurzes u, u, in
der schrift nicht unterscheiden.

au haben nur wenige wörter, und stets vor einfacher
consonanz: daubo (columba). staubjus (pulvis). -auh (an-
hangspartikel). oder -uh? laukan (claudere). braukja (uti-
lis). kaukjan (osculari). sauljan (fundare). raum (spatium).
haunjan (confidere, oder hunjan?). rauna (secretum). sau-
pon (condire). skaura (imber). haus (habitatio). thausundi
(mille). aut (ex) lauton (seducere.) sautis (dulcis). In letz-
term wort entspricht ausnahmsweise kein alth. au, son-
dern uo (suoßi). es findet sich nur der comp. sautizo in
der bedeutung von anektoteron.

Ein kurzes u hingegen (außer den ablauten und
endungen) du (ad) ju (jam) nu (nunc) thu (tu): ubils
(malus). ubizva (porticus). da-guds (eusebes). gudja (pon-
tifex). ludja (facies). trudan (calcare). uf (sub). ufar (su-
per). skufts (capillus). ufta (saepe). hugjan (cogitare). bugjan

*) Wenn Rask (preisschrift p. 164.) ou = au und u = u setzt
und p. 197. sounau schreibt, so ist das nicht zu billigen;
theils hat Ulph. hier stets dasselbe zeichen (n), theils ge-
bührt jenem worte: sun, nicht saun.
I. gothiſche vocale.

(U) u drückt in den beibehaltenen eigennamen
ſtets das gr. ου (ȣ) aus, z. b. Sûſanna, Σουσάννα, lairû-
ſalêm, Ἱερουσαλὴμ (wogegen die nebenform Ἱεροσόλυμα
durch lairauſaulyma gegeben wird, einigemahl ſchwankt
Ulph. zwiſchen beiden, vielleicht nach ſchwankenden
gr. lesarten); Fanûêl φανȣὴλ etc., hiernach hat es im
goth. gedehnten laut. In ächtgothiſchen wörtern macht
aber die geltung dieſes vocals ſchwierigkeit. Für einen
doppellaut ſollte man ihn halten 1) weil die rune ûr,
mit deren geſtalt das goth. ſchriftzeichen (n) ſtimmt, vor-
zugsweiſe den gedehnten laut ausdrückt. 2) wegen je-
nes gr. ου. 3) wegen des entſprechenden alth. und nord.
û. Letzterer grund gibt zugleich den einwurf her: war-
um zeigen andere und zwar zahlreichere alth. u. nord.
wörter ein u oder o, jedenfalls einen kurzen laut, in
welchen derſelbe goth. buchſtab ſteht? Daß er dann kei-
nen diphth. ausdrücke zeigt auch die folgende gemina-
tion, z. b. in brunna.

Dieſes nöthigt zu der annahme eines zweifachen
goth. u, obſchon Ulph. beide mit einem zeichen
ſchreibt *), welches nicht ſchlimmer iſt, als wenn auch
Lateiner und Griechen ihr langes und kurzes u, υ, in
der ſchrift nicht unterſcheiden.

û haben nur wenige wörter, und ſtets vor einfacher
conſonanz: dûbô (columba). ſtûbjus (pulvis). -ûh (an-
hangspartikel). oder -uh? lûkan (claudere). brûkja (uti-
lis). kûkjan (oſculari). ſûljan (fundare). rûm (ſpatium).
hûnjan (confidere, oder hunjan?). rûna (ſecretum). ſû-
pôn (condire). ſkûra (imber). hûs (habitatio). þûſundi
(mille). ût (ex) lûton (ſeducere.) ſûtis (dulcis). In letz-
term wort entſpricht ausnahmsweiſe kein alth. û, ſon-
dern uo (ſuoƷi). es findet ſich nur der comp. ſûtizô in
der bedeutung von ἀνεκτότερον.

Ein kurzes u hingegen (außer den ablauten und
endungen) du (ad) ju (jam) nu (nunc) þu (tu): ubils
(malus). ubizva (porticus). da-guds (εὐσεβὴς). gudja (pon-
tifex). ludja (facies). trudan (calcare). uf (ſub). ufar (ſu-
per). ſkufts (capillus). ufta (ſaepe). hugjan (cogitare). bugjan

*) Wenn Raſk (preisſchrift p. 164.) ȣ = û und υ = u ſetzt
und p. 197. σȣναυ ſchreibt, ſo iſt das nicht zu billigen;
theils hat Ulph. hier ſtets dasſelbe zeichen (n), theils ge-
bührt jenem worte: ſun, nicht ſûn.
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[41/0067] I. gothiſche vocale. (U) u drückt in den beibehaltenen eigennamen ſtets das gr. ου (ȣ) aus, z. b. Sûſanna, Σουσάννα, lairû- ſalêm, Ἱερουσαλὴμ (wogegen die nebenform Ἱεροσόλυμα durch lairauſaulyma gegeben wird, einigemahl ſchwankt Ulph. zwiſchen beiden, vielleicht nach ſchwankenden gr. lesarten); Fanûêl φανȣὴλ etc., hiernach hat es im goth. gedehnten laut. In ächtgothiſchen wörtern macht aber die geltung dieſes vocals ſchwierigkeit. Für einen doppellaut ſollte man ihn halten 1) weil die rune ûr, mit deren geſtalt das goth. ſchriftzeichen (n) ſtimmt, vor- zugsweiſe den gedehnten laut ausdrückt. 2) wegen je- nes gr. ου. 3) wegen des entſprechenden alth. und nord. û. Letzterer grund gibt zugleich den einwurf her: war- um zeigen andere und zwar zahlreichere alth. u. nord. wörter ein u oder o, jedenfalls einen kurzen laut, in welchen derſelbe goth. buchſtab ſteht? Daß er dann kei- nen diphth. ausdrücke zeigt auch die folgende gemina- tion, z. b. in brunna. Dieſes nöthigt zu der annahme eines zweifachen goth. u, obſchon Ulph. beide mit einem zeichen ſchreibt *), welches nicht ſchlimmer iſt, als wenn auch Lateiner und Griechen ihr langes und kurzes u, υ, in der ſchrift nicht unterſcheiden. û haben nur wenige wörter, und ſtets vor einfacher conſonanz: dûbô (columba). ſtûbjus (pulvis). -ûh (an- hangspartikel). oder -uh? lûkan (claudere). brûkja (uti- lis). kûkjan (oſculari). ſûljan (fundare). rûm (ſpatium). hûnjan (confidere, oder hunjan?). rûna (ſecretum). ſû- pôn (condire). ſkûra (imber). hûs (habitatio). þûſundi (mille). ût (ex) lûton (ſeducere.) ſûtis (dulcis). In letz- term wort entſpricht ausnahmsweiſe kein alth. û, ſon- dern uo (ſuoƷi). es findet ſich nur der comp. ſûtizô in der bedeutung von ἀνεκτότερον. Ein kurzes u hingegen (außer den ablauten und endungen) du (ad) ju (jam) nu (nunc) þu (tu): ubils (malus). ubizva (porticus). da-guds (εὐσεβὴς). gudja (pon- tifex). ludja (facies). trudan (calcare). uf (ſub). ufar (ſu- per). ſkufts (capillus). ufta (ſaepe). hugjan (cogitare). bugjan *) Wenn Raſk (preisſchrift p. 164.) ȣ = û und υ = u ſetzt und p. 197. σȣναυ ſchreibt, ſo iſt das nicht zu billigen; theils hat Ulph. hier ſtets dasſelbe zeichen (n), theils ge- bührt jenem worte: ſun, nicht ſûn.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/67>, abgerufen am 27.11.2024.