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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche consonanten. labiales.
sich ausnahmsweise ein kurzes ewen, iwen zugeben,
da auch die spiranten s und h, wenn ihnen kurzer
voc. vorausgeht, das folgende stumme e nicht weg-
werfen (s. 375.) Stark für iuw sprechen aber die for-
men iew, welche sich wie das spätere ie zum älteren iu
überhaupt (s. 352.) verhalten; gleich dem goth. thivs,
thivis, thin hat kein alth. diu, diwis (servus) gegolten,
sondern ein diu, dinwis, das im verfolg zu dio, diowes
und endlich zu die, diewes (vgl. hie, hiewen) erbleichte.
Am sichersten wird man im mittelh. entw. euw, ouw,
iuw annehmen oder (mit auswerfung des w) eu, ou, iu
zu dem folg. cons. ziehen. Durch das mittelh. iuw ist
übrigens ein gesetz des ablautsverhältnisses, welches für
die verba mit ou und ei im praet. sg. kurzen voc.
des pl. und part. fordert, beeinträchtigt und durch
vermengung der i und u eine vermischung zweier
conj. herbeigeführt, nämlich schreien, schrei bekommt
entw. schreien, geschreien oder schriuwen, geschriuwen
(st. schriwen, geschriwen) wie bliuwen, blou entw.
blauen, geblauen oder bliuwen, gebliuwen (st. bluwen,
gebluwen); näheres bei der conj. -- d) in allen die-
sen fällen halte ich w nirgends für ein bloßes zwi-
schen wurzel und flexion eingeschaltetes trennungs-w;
vielmehr setzt es ein organ. u als seinen grund vor-
aus. bauwen folgt aus bouwen (s. den wechsel zwi-
schen au, ou s. 355.) und steht für ein theoretisches
bowen. Neben trauwen kann auch nach der analogie
mittelh. umlaute (s. 363.) trinwen, zuläßig werden,
vgl. den reim erniuwet vertriuwet M. S. 2, 232b ge-
niuwet:getriuwet 2, 21b; selbst biuwen:riuwen 1, 17[ - 1 Zeichen fehlt]b
st. des üblichen bauwen:getrauwen (Trist. 69a Flore 38a
Karl 27b troj. 71c 98b 175c) da doch biuwen so häufig
auf riuwen, briuwen, niuwen etc. reimen könute.
Daß w nicht zur bloßen ausfüllung des hiatus diene,
folgt aus seiner abwesenheit in andern fällen, z. b. in
bei-e (apis), wo kein beiwe oder biuwe eingetreten
ist. Die mittelh. sprache tilgt alle org. w nach ei und
zieht den hiatus vor, z. b. speien, spe (goth. speivan,
spaiv) schreien, schre, pl. schreien (st. schrien, das nach
der regel s. 331. unzuläßig) oder schrirn oder schriu-
wen (st. schriwen). -- e) liegt folglich w überall dem
voc. u nahe, so ist es auch darum wahre spirans und
keine asp. Das wird durch seine verwandtschaft und
verwechslung mit der spir. h bestätigt (vgl. s. 148..
Zwar für ruowe (quies) noch kein ruohe (neuh. ruhe),
C c 2
I. mittelhochdeutſche conſonanten. labiales.
ſich ausnahmsweiſe ein kurzes ewen, iwen zugeben,
da auch die ſpiranten ſ und h, wenn ihnen kurzer
voc. vorausgeht, das folgende ſtumme e nicht weg-
werfen (ſ. 375.) Stark für iuw ſprechen aber die for-
men iew, welche ſich wie das ſpätere ie zum älteren iu
überhaupt (ſ. 352.) verhalten; gleich dem goth. þivs,
þivis, þin hat kein alth. diu, diwis (ſervus) gegolten,
ſondern ein diu, dinwis, das im verfolg zu dio, diowes
und endlich zu die, diewes (vgl. hie, hiewen) erbleichte.
Am ſicherſten wird man im mittelh. entw. euw, ouw,
iuw annehmen oder (mit auswerfung des w) eu, ou, iu
zu dem folg. conſ. ziehen. Durch das mittelh. iuw iſt
übrigens ein geſetz des ablautsverhältniſſes, welches für
die verba mit ou und ei im praet. ſg. kurzen voc.
des pl. und part. fordert, beeinträchtigt und durch
vermengung der i und u eine vermiſchung zweier
conj. herbeigeführt, nämlich ſchrîen, ſchrei bekommt
entw. ſchrîen, geſchrîen oder ſchriuwen, geſchriuwen
(ſt. ſchriwen, geſchriwen) wie bliuwen, blou entw.
blûen, geblûen oder bliuwen, gebliuwen (ſt. bluwen,
gebluwen); näheres bei der conj. — d) in allen die-
ſen fällen halte ich w nirgends für ein bloßes zwi-
ſchen wurzel und flexion eingeſchaltetes trennungs-w;
vielmehr ſetzt es ein organ. u als ſeinen grund vor-
aus. bûwen folgt aus bouwen (ſ. den wechſel zwi-
ſchen û, ou ſ. 355.) und ſteht für ein theoretiſches
bowen. Neben trûwen kann auch nach der analogie
mittelh. umlaute (ſ. 363.) trinwen, zuläßig werden,
vgl. den reim erniuwet vertriuwet M. S. 2, 232b ge-
niuwet:getriuwet 2, 21b; ſelbſt biuwen:riuwen 1, 17[ – 1 Zeichen fehlt]b
ſt. des üblichen bûwen:getrûwen (Triſt. 69a Flore 38a
Karl 27b troj. 71c 98b 175c) da doch biuwen ſo häufig
auf riuwen, briuwen, niuwen etc. reimen könute.
Daß w nicht zur bloßen ausfüllung des hiatus diene,
folgt aus ſeiner abweſenheit in andern fällen, z. b. in
bî-e (apis), wo kein bîwe oder biuwe eingetreten
iſt. Die mittelh. ſprache tilgt alle org. w nach î und
zieht den hiatus vor, z. b. ſpîen, ſpê (goth. ſpeivan,
ſpaiv) ſchrîen, ſchrê, pl. ſchrîen (ſt. ſchrien, das nach
der regel ſ. 331. unzuläßig) oder ſchrirn oder ſchriu-
wen (ſt. ſchriwen). — e) liegt folglich w überall dem
voc. u nahe, ſo iſt es auch darum wahre ſpirans und
keine aſp. Das wird durch ſeine verwandtſchaft und
verwechſlung mit der ſpir. h beſtätigt (vgl. ſ. 148‥
Zwar für ruowe (quies) noch kein ruohe (neuh. ruhe),
C c 2
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[403/0429] I. mittelhochdeutſche conſonanten. labiales. ſich ausnahmsweiſe ein kurzes ewen, iwen zugeben, da auch die ſpiranten ſ und h, wenn ihnen kurzer voc. vorausgeht, das folgende ſtumme e nicht weg- werfen (ſ. 375.) Stark für iuw ſprechen aber die for- men iew, welche ſich wie das ſpätere ie zum älteren iu überhaupt (ſ. 352.) verhalten; gleich dem goth. þivs, þivis, þin hat kein alth. diu, diwis (ſervus) gegolten, ſondern ein diu, dinwis, das im verfolg zu dio, diowes und endlich zu die, diewes (vgl. hie, hiewen) erbleichte. Am ſicherſten wird man im mittelh. entw. euw, ouw, iuw annehmen oder (mit auswerfung des w) eu, ou, iu zu dem folg. conſ. ziehen. Durch das mittelh. iuw iſt übrigens ein geſetz des ablautsverhältniſſes, welches für die verba mit ou und ei im praet. ſg. kurzen voc. des pl. und part. fordert, beeinträchtigt und durch vermengung der i und u eine vermiſchung zweier conj. herbeigeführt, nämlich ſchrîen, ſchrei bekommt entw. ſchrîen, geſchrîen oder ſchriuwen, geſchriuwen (ſt. ſchriwen, geſchriwen) wie bliuwen, blou entw. blûen, geblûen oder bliuwen, gebliuwen (ſt. bluwen, gebluwen); näheres bei der conj. — d) in allen die- ſen fällen halte ich w nirgends für ein bloßes zwi- ſchen wurzel und flexion eingeſchaltetes trennungs-w; vielmehr ſetzt es ein organ. u als ſeinen grund vor- aus. bûwen folgt aus bouwen (ſ. den wechſel zwi- ſchen û, ou ſ. 355.) und ſteht für ein theoretiſches bowen. Neben trûwen kann auch nach der analogie mittelh. umlaute (ſ. 363.) trinwen, zuläßig werden, vgl. den reim erniuwet vertriuwet M. S. 2, 232b ge- niuwet:getriuwet 2, 21b; ſelbſt biuwen:riuwen 1, 17_b ſt. des üblichen bûwen:getrûwen (Triſt. 69a Flore 38a Karl 27b troj. 71c 98b 175c) da doch biuwen ſo häufig auf riuwen, briuwen, niuwen etc. reimen könute. Daß w nicht zur bloßen ausfüllung des hiatus diene, folgt aus ſeiner abweſenheit in andern fällen, z. b. in bî-e (apis), wo kein bîwe oder biuwe eingetreten iſt. Die mittelh. ſprache tilgt alle org. w nach î und zieht den hiatus vor, z. b. ſpîen, ſpê (goth. ſpeivan, ſpaiv) ſchrîen, ſchrê, pl. ſchrîen (ſt. ſchrien, das nach der regel ſ. 331. unzuläßig) oder ſchrirn oder ſchriu- wen (ſt. ſchriwen). — e) liegt folglich w überall dem voc. u nahe, ſo iſt es auch darum wahre ſpirans und keine aſp. Das wird durch ſeine verwandtſchaft und verwechſlung mit der ſpir. h beſtätigt (vgl. ſ. 148‥ Zwar für ruowe (quies) noch kein ruohe (neuh. ruhe), C c 2

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/429>, abgerufen am 28.05.2024.