3) das gesetz der quantität kann in der sprache vor- handen und selbst noch wirksam seyn, ohne daß es eine dichtkunst anwende. Mag es nun uralte verschollene deutsche lieder gegeben haben, oder nicht, in welchen sich eine solche anwendung deutlich offenbarte; so viel scheint anzunehmen, daß die uns verbliebenen ältesten denkmähler unserer poesie, sächsische, hochdeutsche *) und nordische mehr den accent beachten, als das proso- dische maß, wiewohl die bisher vernachläßigte sorgsa- mere untersuchung dieses gegenstandes erst zu sicheren aufschlüßen führen dürfte. Eine spur des prosodischen princips meine ich inzwischen in der hochdeutschen reimkunst zu entdecken. Die reime sind entw. stumpfe oder klingende**), unter denen man sich nicht immer dasjenige vorstellen muß, was sie heute bedeuten, näm- lich solche die auf der letzten silbe reimen oder auf der vorletzten mit tonlos nachklingender letzter. Für meine gegenwärtige absicht reicht es hin, drei perioden zu un- terscheiden. I. Otfried kennt stumpfe und klingende reime; völliger gleichlaut ist in beiden nicht nöthig, wiewohl oft vorhanden, häufig gilt bloße assonanz. Stumpfe sind ihm, die lediglich auslauten, folglich a) einsilbige auf einsilbige wörter, war: thar. sar: hiar. thu: nau. quad: pad. man: nam. thaß: was. b) einsilbige auf zweisil- bige, war: meistar. thaß: seinaß. man: findan. c) einsil- bige auf dreisilbige, mer: fremider. not: bilidot. thes: githigines. Klingender reime, d. h. solcher die in- und auslauten, gibt es folgende: a) zweisilbige auf zweisil- bige, zeißan: heißan. fiure: hiare. screiban: bileiban. muate: guate. ahtu: slahtu. ferti: henti. hanton: anton. racha: spracha etc. b) zweisilbige auf dreisilbige, weisa: felisa. notin: steinotin. weibe: druhtine. c) dreisilbige auf dreisilbige, worahta: forahta. managen: hebigen. tha- nana: thegana. -- Erwägt man alle diese reime, so ha- ben, was den accent betrifft, die einsilbigen wörter stets
*) Selbst Notkers mit freier absicht versuchte nachbildungen antiker versmaße (im Boethius).
**) Beßere namen als männliche oder weibliche und nach dem vorgang der meistersänger; mit dem ausdrucke stumps (hneptr. styfbr) stimmt schon die nordische skalda. Bei- derlei reime sind in den mittelh. strophen strenge geson- dert und können sich nicht vertreten, in den minnelie- dern verschränken sich beide oft und stets regelmäßig. Das ganze lied von den Nibelungen hat keinen klingen- den reim, der ganze Titurel keinen stumpfen.
I. von den buchſtaben insgemein.
3) das geſetz der quantität kann in der ſprache vor- handen und ſelbſt noch wirkſam ſeyn, ohne daß es eine dichtkunſt anwende. Mag es nun uralte verſchollene deutſche lieder gegeben haben, oder nicht, in welchen ſich eine ſolche anwendung deutlich offenbarte; ſo viel ſcheint anzunehmen, daß die uns verbliebenen älteſten denkmähler unſerer poeſie, ſächſiſche, hochdeutſche *) und nordiſche mehr den accent beachten, als das proſo- diſche maß, wiewohl die bisher vernachläßigte ſorgſa- mere unterſuchung dieſes gegenſtandes erſt zu ſicheren aufſchlüßen führen dürfte. Eine ſpur des proſodiſchen princips meine ich inzwiſchen in der hochdeutſchen reimkunſt zu entdecken. Die reime ſind entw. ſtumpfe oder klingende**), unter denen man ſich nicht immer dasjenige vorſtellen muß, was ſie heute bedeuten, näm- lich ſolche die auf der letzten ſilbe reimen oder auf der vorletzten mit tonlos nachklingender letzter. Für meine gegenwärtige abſicht reicht es hin, drei perioden zu un- terſcheiden. I. Otfried kennt ſtumpfe und klingende reime; völliger gleichlaut iſt in beiden nicht nöthig, wiewohl oft vorhanden, häufig gilt bloße aſſonanz. Stumpfe ſind ihm, die lediglich auslauten, folglich a) einſilbige auf einſilbige wörter, wâr: thâr. ſàr: hiar. thù: nû. quad: pad. man: nam. thaƷ: was. b) einſilbige auf zweiſil- bige, wâr: meiſtar. thaƷ: ſînaƷ. man: findan. c) einſil- bige auf dreiſilbige, mêr: fremidêr. nôt: bilidôt. thës: githigines. Klingender reime, d. h. ſolcher die in- und auslauten, gibt es folgende: a) zweiſilbige auf zweiſil- bige, zeiƷan: heiƷan. fiure: hiare. ſcrîban: bilîban. muate: guate. ahtu: ſlahtu. ferti: henti. hanton: antôn. racha: ſprâcha etc. b) zweiſilbige auf dreiſilbige, wîſa: fëliſa. nôtin: ſteinôtin. wîbe: druhtine. c) dreiſilbige auf dreiſilbige, worahta: forahta. managên: hebigên. tha- nana: thëgana. — Erwägt man alle dieſe reime, ſo ha- ben, was den accent betrifft, die einſilbigen wörter ſtets
**) Beßere namen als männliche oder weibliche und nach dem vorgang der meiſterſänger; mit dem ausdrucke ſtumpſ (hneptr. ſtŷfƀr) ſtimmt ſchon die nordiſche ſkâlda. Bei- derlei reime ſind in den mittelh. ſtrophen ſtrenge geſon- dert und können ſich nicht vertreten, in den minnelie- dern verſchränken ſich beide oft und ſtets regelmäßig. Das ganze lied von den Nibelungen hat keinen klingen- den reim, der ganze Titurel keinen ſtumpfen.
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I. von den buchſtaben insgemein.
3) das geſetz der quantität kann in der ſprache vor-
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dichtkunſt anwende. Mag es nun uralte verſchollene
deutſche lieder gegeben haben, oder nicht, in welchen
ſich eine ſolche anwendung deutlich offenbarte; ſo viel
ſcheint anzunehmen, daß die uns verbliebenen älteſten
denkmähler unſerer poeſie, ſächſiſche, hochdeutſche *)
und nordiſche mehr den accent beachten, als das proſo-
diſche maß, wiewohl die bisher vernachläßigte ſorgſa-
mere unterſuchung dieſes gegenſtandes erſt zu ſicheren
aufſchlüßen führen dürfte. Eine ſpur des proſodiſchen
princips meine ich inzwiſchen in der hochdeutſchen
reimkunſt zu entdecken. Die reime ſind entw. ſtumpfe
oder klingende **), unter denen man ſich nicht immer
dasjenige vorſtellen muß, was ſie heute bedeuten, näm-
lich ſolche die auf der letzten ſilbe reimen oder auf der
vorletzten mit tonlos nachklingender letzter. Für meine
gegenwärtige abſicht reicht es hin, drei perioden zu un-
terſcheiden. I. Otfried kennt ſtumpfe und klingende reime;
völliger gleichlaut iſt in beiden nicht nöthig, wiewohl
oft vorhanden, häufig gilt bloße aſſonanz. Stumpfe ſind
ihm, die lediglich auslauten, folglich a) einſilbige auf
einſilbige wörter, wâr: thâr. ſàr: hiar. thù: nû. quad:
pad. man: nam. thaƷ: was. b) einſilbige auf zweiſil-
bige, wâr: meiſtar. thaƷ: ſînaƷ. man: findan. c) einſil-
bige auf dreiſilbige, mêr: fremidêr. nôt: bilidôt. thës:
githigines. Klingender reime, d. h. ſolcher die in- und
auslauten, gibt es folgende: a) zweiſilbige auf zweiſil-
bige, zeiƷan: heiƷan. fiure: hiare. ſcrîban: bilîban.
muate: guate. ahtu: ſlahtu. ferti: henti. hanton: antôn.
racha: ſprâcha etc. b) zweiſilbige auf dreiſilbige, wîſa:
fëliſa. nôtin: ſteinôtin. wîbe: druhtine. c) dreiſilbige
auf dreiſilbige, worahta: forahta. managên: hebigên. tha-
nana: thëgana. — Erwägt man alle dieſe reime, ſo ha-
ben, was den accent betrifft, die einſilbigen wörter ſtets
*) Selbſt Notkers mit freier abſicht verſuchte nachbildungen
antiker versmaße (im Boethius).
**) Beßere namen als männliche oder weibliche und nach
dem vorgang der meiſterſänger; mit dem ausdrucke ſtumpſ
(hneptr. ſtŷfƀr) ſtimmt ſchon die nordiſche ſkâlda. Bei-
derlei reime ſind in den mittelh. ſtrophen ſtrenge geſon-
dert und können ſich nicht vertreten, in den minnelie-
dern verſchränken ſich beide oft und ſtets regelmäßig.
Das ganze lied von den Nibelungen hat keinen klingen-
den reim, der ganze Titurel keinen ſtumpfen.
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/42>, abgerufen am 21.11.2024.
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