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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
(hasta) mer (misceo) smer (butyrum) wer (praestet) und
so überall. Anscheinend gleichlautige transitiva und in-
transitiva sind am e und e zu erkennen, vgl. sterben
(mori) verderben (perire) mit sterben (occidere) verder-
ben (perdere); jene im reim auf werben, diese auf ver-
ben, erben *). Ungenan reimende gestatten sich zuwei-
len ein e auf e, als velde: selde (Maria 187.) verge:
berge (Ernst 38a) veter: weter (Wilh. 1, 120a) legen:
pflegen, degen (Nib. 859. 3215. 3909. 8474.) slegen: we-
gen (Wig. 170. 402.) slegen: degen (Wig. 251. 277. 349.)
regen: pflegen (Wig. 236.) degen: slegen (klage 129b. c
und in den Nib. achtmahl) **) leben: steben (M. S. 2, 124a)
erne (messis): gerne (M. S. 2, 193a. b. 196a); gelernet: ger-
net (Parc. 61a). Inzwischen darf man nicht alle fälle für
schlechte reime erklären, in denen ein e oder e der ab-
stammung und früherem sprachgebrauche zuwider steht.
Manche wörter können allmählig, wenigstens nach land-
schaftlicher aussprache ein e statt e angenommen haben
oder ein e statt e; war dies unorganisch, so reimte doch
der dichter, wenn sein ohr der gangbaren aussprache
folgte, nicht unrecht; slege, slegen lautete, nach jenen
häufigen reimen zu urtheilen, wohl wirklich wie slege,
slegen. Anders laßen sich anomalien, die wir selbst bei
forgfältigen reimern wahrnehmen, kaum erklären; hier
die nöthigsten belege: 1) e statt des org. e zeigen frebel:
nebel (Parc. 73a Wilh. 2, 114b) frevel: wevel (Reinfr. 88a)
alth. fraval, nibal, weval; effen: treffen (troj. 17c 18c) da
doch die ableitung von affe effen fordert; welde, wel-
den: velde, velden (troj. 77c 171c); melde, melden:
velde, velden (alt. Tit. 97. schwanr. 583. 893. troj. 29a
77b) M. S. 1, 136a sogar melden: schelten; hier könnte
schon im alth. ein meldan, meldon (prodere) st. meldan,
meldon gegolten haben, da sich das ursprüngl. mald
nirgends zeigt ***) und selbst das angels. meld, meldjan

*) Hiernach wäre verderben: erben (a. Tit. 4. Wilh. 2, 82b)
falsch, hingegen verderben (Wilh. 2, 100a) recht gereimt.
**) In den Nib. wo lauter stumpfe reime gelten (oben s. 16.)
kommen natürlich wenige mit dem umlautenden wurzel-
vocal ü und e vor (viele auf e und e) z. b. wern: hern
9609. her: wer 7813; fehlerhaft steht bei Hagen 6403.
her: mer (denn der falsche reim mer: her 1697. ist erträg-
licher) man lese für her mit den hss. ser, was auch der
sinn fordert.
***) Maldras ein aus Idatius bekannter suevisoher eigenname.

I. mittelhochdeutſche vocale.
(haſta) mër (miſceo) ſmër (butyrum) wër (praeſtet) und
ſo überall. Anſcheinend gleichlautige tranſitiva und in-
tranſitiva ſind am e und ë zu erkennen, vgl. ſtërben
(mori) verdërben (perire) mit ſterben (occidere) verder-
ben (perdere); jene im reim auf wërben, dieſe auf ver-
ben, erben *). Ungenan reimende geſtatten ſich zuwei-
len ein e auf ë, als vëlde: ſelde (Maria 187.) verge:
bërge (Ernſt 38a) veter: wëter (Wilh. 1, 120a) legen:
pflëgen, dëgen (Nib. 859. 3215. 3909. 8474.) ſlegen: wë-
gen (Wig. 170. 402.) ſlegen: dëgen (Wig. 251. 277. 349.)
regen: pflëgen (Wig. 236.) dëgen: ſlegen (klage 129b. c
und in den Nib. achtmahl) **) lëben: ſteben (M. S. 2, 124a)
erne (meſſis): gërne (M. S. 2, 193a. b. 196a); gelërnet: ger-
net (Parc. 61a). Inzwiſchen darf man nicht alle fälle für
ſchlechte reime erklären, in denen ein e oder ë der ab-
ſtammung und früherem ſprachgebrauche zuwider ſteht.
Manche wörter können allmählig, wenigſtens nach land-
ſchaftlicher ausſprache ein e ſtatt ë angenommen haben
oder ein ë ſtatt e; war dies unorganiſch, ſo reimte doch
der dichter, wenn ſein ohr der gangbaren ausſprache
folgte, nicht unrecht; ſlege, ſlegen lautete, nach jenen
häufigen reimen zu urtheilen, wohl wirklich wie ſlëge,
ſlëgen. Anders laßen ſich anomalien, die wir ſelbſt bei
forgfältigen reimern wahrnehmen, kaum erklären; hier
die nöthigſten belege: 1) ë ſtatt des org. e zeigen frëbel:
nëbel (Parc. 73a Wilh. 2, 114b) frëvel: wëvel (Reinfr. 88a)
alth. fraval, nibal, wëval; ëffen: trëffen (troj. 17c 18c) da
doch die ableitung von affe effen fordert; wëlde, wël-
den: vëlde, vëlden (troj. 77c 171c); mëlde, mëlden:
vëlde, vëlden (alt. Tit. 97. ſchwanr. 583. 893. troj. 29a
77b) M. S. 1, 136a ſogar mëlden: ſchëlten; hier könnte
ſchon im alth. ein mëldan, mëldôn (prodere) ſt. meldan,
meldôn gegolten haben, da ſich das urſprüngl. mald
nirgends zeigt ***) und ſelbſt das angelſ. mëld, mëldjan

*) Hiernach wäre verdërben: erben (a. Tit. 4. Wilh. 2, 82b)
falſch, hingegen verderben (Wilh. 2, 100a) recht gereimt.
**) In den Nib. wo lauter ſtumpfe reime gelten (oben ſ. 16.)
kommen natürlich wenige mit dem umlautenden wurzel-
vocal ü und e vor (viele auf ë und ê) z. b. wern: hern
9609. her: wer 7813; fehlerhaft ſteht bei Hagen 6403.
her: mêr (denn der falſche reim mêr: hër 1697. iſt erträg-
licher) man leſe für her mit den hſſ. ſêr, was auch der
ſinn fordert.
***) Maldras ein aus Idatius bekannter ſueviſoher eigenname.
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[333/0359] I. mittelhochdeutſche vocale. (haſta) mër (miſceo) ſmër (butyrum) wër (praeſtet) und ſo überall. Anſcheinend gleichlautige tranſitiva und in- tranſitiva ſind am e und ë zu erkennen, vgl. ſtërben (mori) verdërben (perire) mit ſterben (occidere) verder- ben (perdere); jene im reim auf wërben, dieſe auf ver- ben, erben *). Ungenan reimende geſtatten ſich zuwei- len ein e auf ë, als vëlde: ſelde (Maria 187.) verge: bërge (Ernſt 38a) veter: wëter (Wilh. 1, 120a) legen: pflëgen, dëgen (Nib. 859. 3215. 3909. 8474.) ſlegen: wë- gen (Wig. 170. 402.) ſlegen: dëgen (Wig. 251. 277. 349.) regen: pflëgen (Wig. 236.) dëgen: ſlegen (klage 129b. c und in den Nib. achtmahl) **) lëben: ſteben (M. S. 2, 124a) erne (meſſis): gërne (M. S. 2, 193a. b. 196a); gelërnet: ger- net (Parc. 61a). Inzwiſchen darf man nicht alle fälle für ſchlechte reime erklären, in denen ein e oder ë der ab- ſtammung und früherem ſprachgebrauche zuwider ſteht. Manche wörter können allmählig, wenigſtens nach land- ſchaftlicher ausſprache ein e ſtatt ë angenommen haben oder ein ë ſtatt e; war dies unorganiſch, ſo reimte doch der dichter, wenn ſein ohr der gangbaren ausſprache folgte, nicht unrecht; ſlege, ſlegen lautete, nach jenen häufigen reimen zu urtheilen, wohl wirklich wie ſlëge, ſlëgen. Anders laßen ſich anomalien, die wir ſelbſt bei forgfältigen reimern wahrnehmen, kaum erklären; hier die nöthigſten belege: 1) ë ſtatt des org. e zeigen frëbel: nëbel (Parc. 73a Wilh. 2, 114b) frëvel: wëvel (Reinfr. 88a) alth. fraval, nibal, wëval; ëffen: trëffen (troj. 17c 18c) da doch die ableitung von affe effen fordert; wëlde, wël- den: vëlde, vëlden (troj. 77c 171c); mëlde, mëlden: vëlde, vëlden (alt. Tit. 97. ſchwanr. 583. 893. troj. 29a 77b) M. S. 1, 136a ſogar mëlden: ſchëlten; hier könnte ſchon im alth. ein mëldan, mëldôn (prodere) ſt. meldan, meldôn gegolten haben, da ſich das urſprüngl. mald nirgends zeigt ***) und ſelbſt das angelſ. mëld, mëldjan *) Hiernach wäre verdërben: erben (a. Tit. 4. Wilh. 2, 82b) falſch, hingegen verderben (Wilh. 2, 100a) recht gereimt. **) In den Nib. wo lauter ſtumpfe reime gelten (oben ſ. 16.) kommen natürlich wenige mit dem umlautenden wurzel- vocal ü und e vor (viele auf ë und ê) z. b. wern: hern 9609. her: wer 7813; fehlerhaft ſteht bei Hagen 6403. her: mêr (denn der falſche reim mêr: hër 1697. iſt erträg- licher) man leſe für her mit den hſſ. ſêr, was auch der ſinn fordert. ***) Maldras ein aus Idatius bekannter ſueviſoher eigenname.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/359>, abgerufen am 20.05.2024.