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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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Vorrede.
daß es dem älteren wie dem neuern schwäbischen dia-
lecte abzusprechen sey, dieser aber auf die bildung des
neuhochdeutschen, welchem durchaus nur von gerecht ist,
mächtiger gewirkt habe, als der bairische. -- Das nie-
derdeutsche sterre für sterne (s. 390. 391) begegnet meines
wißens in oberdeutscher volkssprache nirgends, wenig-
stens in keinem der genauer untersuchten dialecte, na-
mentlich nicht im elsäßischen; sollte es im lothringi-
schen, mainzischen, trierischen beginnen und für das
alth. sterro bei O und T. einen fingerzeig geben? -- Ein-
zelnes zusammentreffen beweist freilich nicht genug; hat
man erst solcher linien mehr gezogen und viele be-
rührungs- oder abstandspuncte gewonnen, so wird sich
die sonderung mancher dialecte fast mathematisch nach-
rechnen laßen. Bei sammlung der volksmundarten müßen
aber auffallend hier fehlende, dort vorhandene wörter
und formen, gleichviel ob sie in der schriftsprache oder
nicht vorhanden sind, ins auge gefaßt, überhaupt die
mundarten um ihrer selbst willen untersucht, nicht als
ergänzungsmittel der gebildeten sprache betrachtet wer-
den. Es liegt oft mehr daran zu wißen, ob ein ganz
üblicher ausdruck der schriftsprache in der gemeinen
des volks vorhanden sey, oder ihr gebreche? als von
einer scheinbar seltsamen, verderbten form kunde zu
erlangen.

Da die verwandtschaft und abweichung der dialecte
so sehr an den wortbildungen und fügungen, als an den
lauten, flexionen und einzelnen wörtern geprüft werden
muß, enthalte ich mich, vorläufig auf ansichten ein-
zugehn, die mir über frühere und spätere verzweigung
unserer völkerschaften vorschweben. Ich hoffe sie beim
schluße des werks vollständiger zu geben; auch die in
der ersten ausgabe mitgetheilten allgemeinen sätze über
den historischen gang der sprache sind als unreife erör-
terungen jetzt bei seite gelegt worden. Über eine an-
dere verschiedenheit der gegenwärtigen von der frühe-
ren einrichtung muß ich mich indessen näher erklären:
die anführung der belegstellen geschieht unhäufiger als
in der ersten auflage, das ist oft nachtheilig. Der
grammatiker soll von jedem einzelnen fall rechenschaft
geben können; durch beifügung des belegs werden die
unbelegbaren fälle für den leser und nacharbeiter her-
vorgehoben. Bei weiterem fortschritt ergeben sich nun
ganze strecken als ausgemacht und es würde lästig seyn,
sie noch einzeln beweisen zu wollen; das schwere bleibt

Vorrede.
daß es dem älteren wie dem neuern ſchwäbiſchen dia-
lecte abzuſprechen ſey, dieſer aber auf die bildung des
neuhochdeutſchen, welchem durchaus nur von gerecht iſt,
mächtiger gewirkt habe, als der bairiſche. — Das nie-
derdeutſche ſtërre für ſtërne (ſ. 390. 391) begegnet meines
wißens in oberdeutſcher volksſprache nirgends, wenig-
ſtens in keinem der genauer unterſuchten dialecte, na-
mentlich nicht im elſäßiſchen; ſollte es im lothringi-
ſchen, mainziſchen, trieriſchen beginnen und für das
alth. ſtërro bei O und T. einen fingerzeig geben? — Ein-
zelnes zuſammentreffen beweiſt freilich nicht genug; hat
man erſt ſolcher linien mehr gezogen und viele be-
rührungs- oder abſtandspuncte gewonnen, ſo wird ſich
die ſonderung mancher dialecte faſt mathematiſch nach-
rechnen laßen. Bei ſammlung der volksmundarten müßen
aber auffallend hier fehlende, dort vorhandene wörter
und formen, gleichviel ob ſie in der ſchriftſprache oder
nicht vorhanden ſind, ins auge gefaßt, überhaupt die
mundarten um ihrer ſelbſt willen unterſucht, nicht als
ergänzungsmittel der gebildeten ſprache betrachtet wer-
den. Es liegt oft mehr daran zu wißen, ob ein ganz
üblicher ausdruck der ſchriftſprache in der gemeinen
des volks vorhanden ſey, oder ihr gebreche? als von
einer ſcheinbar ſeltſamen, verderbten form kunde zu
erlangen.

Da die verwandtſchaft und abweichung der dialecte
ſo ſehr an den wortbildungen und fügungen, als an den
lauten, flexionen und einzelnen wörtern geprüft werden
muß, enthalte ich mich, vorläufig auf anſichten ein-
zugehn, die mir über frühere und ſpätere verzweigung
unſerer völkerſchaften vorſchweben. Ich hoffe ſie beim
ſchluße des werks vollſtändiger zu geben; auch die in
der erſten ausgabe mitgetheilten allgemeinen ſätze über
den hiſtoriſchen gang der ſprache ſind als unreife erör-
terungen jetzt bei ſeite gelegt worden. Über eine an-
dere verſchiedenheit der gegenwärtigen von der frühe-
ren einrichtung muß ich mich indeſſen näher erklären:
die anführung der belegſtellen geſchieht unhäufiger als
in der erſten auflage, das iſt oft nachtheilig. Der
grammatiker ſoll von jedem einzelnen fall rechenſchaft
geben können; durch beifügung des belegs werden die
unbelegbaren fälle für den leſer und nacharbeiter her-
vorgehoben. Bei weiterem fortſchritt ergeben ſich nun
ganze ſtrecken als ausgemacht und es würde läſtig ſeyn,
ſie noch einzeln beweiſen zu wollen; das ſchwere bleibt

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. XV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/21>, abgerufen am 27.04.2024.