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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. althochdeutsche vocale.
4) aus verschiedenen anzeigen darf man schließen, daß
in einer früheren zeit die abweichung von dem goth.
vocallauten weit geringer war, als sie in unsern alth.
denkmählern erscheint. Man vergl. die bemerkungen
s. 79. über die abwesenheit des umlauts e; s. 81. über
das frühere i statt e; s. 84. über das ältere u statt o;
s. 86. über das ältere e statt a; s. 89. über den ursprung
des e aus ei; s. 88, 93, 97. über ein älteres a, i, u, st. a,
ei, au; s. 111. die spuren des ält. o st. uo; s. 99. über das
ält. ai, au st. ei, ou; s. 107. über das ält. iu st. ia, io
ie, so wie insgemein die unorganische natur der drei
letztgenannten diphth.
5) höchst schwierig bleibt die geltung der alth. vocale
in den nichtwurzelhaften theilen der wörter, nament-
lich in den endungen, wo ein ganz anderes gesetz
ihr verhältniß bestimmt, als in den wurzeln. Zwar
sind auch die wurzelvocale der veränderung unterwor-
fen theils durch den umlaut, theils durch mehr hi-
storische übergänge, wie wir deren zwischen i und e,
u und o und den diphthongen insgemein viele be-
merkt haben. Gleichwohl herrscht in solchen umlau-
ten und übergängen ein geregelter, ruhiger gang oder
es wirken dabei verschiedenheiten der mundart. In
den unradicalen wortbestandtheilen wechselt hingegen
der laut schneller und willkürlicher, wenn auch nicht
ohne alle regel. Der grund liegt in der geringeren
betonung. Ein gering betonter, oder tonloser laut
wird schwach und dadurch unsicher *). Diese unsicher-
*) Aus der schwächung folgt die änderung des lauts als mög-
lich, nicht als nothwendig; ohne zweifel hat die goth.
sprache tonlose laute gehabt, zu welcher annahme schon
ihre hänsigen syncopen (tonlose und geschwächte sind vor-
zeichen reisender syncopen) bringen. Allein sie läßt in
unsyncopierten flexionen und wortbildungen den abge-
schwächten laut an sich unverändert, d. h. haubith, liuhath,
manag behalten in haubidis, liuhadeins, managei den lant
bei, obgleich schwerlich den ton. Früher könnte auch
ein betonteres haubath, haubuth etc. stattgefunden haben.
Wirklich zeigen sich doch einige spuren esoterisches vo-
calwechsels, namentlich die s. 36. 40. angeführten verwand-
lungen gabeigs in gabigs; silegri, spille iu siligri, spilli;
krotoda, krotuda; viduvo, vidovo; ainaha, aino[h]o; aino-
mehun, ainummehun st. ainammahun (vgl. unten beim
unbest. pron.). Einige dieser fälle weisen sogar die alth.
lautassimilation. -- Gibt es auch in den alten sprachen
solchen vocalwechsel? Man pflegt in ihnen nur zweier-
I. althochdeutſche vocale.
4) aus verſchiedenen anzeigen darf man ſchließen, daß
in einer früheren zeit die abweichung von dem goth.
vocallauten weit geringer war, als ſie in unſern alth.
denkmählern erſcheint. Man vergl. die bemerkungen
ſ. 79. über die abweſenheit des umlauts e; ſ. 81. über
das frühere i ſtatt ë; ſ. 84. über das ältere u ſtatt o;
ſ. 86. über das ältere ê ſtatt â; ſ. 89. über den urſprung
des ê aus ei; ſ. 88, 93, 97. über ein älteres a, i, u, ſt. â,
î, û; ſ. 111. die ſpuren des ält. ô ſt. uo; ſ. 99. über das
ält. ai, au ſt. ei, ou; ſ. 107. über das ält. iu ſt. ia, io
ie, ſo wie insgemein die unorganiſche natur der drei
letztgenannten diphth.
5) höchſt ſchwierig bleibt die geltung der alth. vocale
in den nichtwurzelhaften theilen der wörter, nament-
lich in den endungen, wo ein ganz anderes geſetz
ihr verhältniß beſtimmt, als in den wurzeln. Zwar
ſind auch die wurzelvocale der veränderung unterwor-
fen theils durch den umlaut, theils durch mehr hi-
ſtoriſche übergänge, wie wir deren zwiſchen i und ë,
u und o und den diphthongen insgemein viele be-
merkt haben. Gleichwohl herrſcht in ſolchen umlau-
ten und übergängen ein geregelter, ruhiger gang oder
es wirken dabei verſchiedenheiten der mundart. In
den unradicalen wortbeſtandtheilen wechſelt hingegen
der laut ſchneller und willkürlicher, wenn auch nicht
ohne alle regel. Der grund liegt in der geringeren
betonung. Ein gering betonter, oder tonloſer laut
wird ſchwach und dadurch unſicher *). Dieſe unſicher-
*) Aus der ſchwächung folgt die änderung des lauts als mög-
lich, nicht als nothwendig; ohne zweifel hat die goth.
ſprache tonloſe laute gehabt, zu welcher annahme ſchon
ihre hänſigen ſyncopen (tonloſe und geſchwächte ſind vor-
zeichen reiſender ſyncopen) bringen. Allein ſie läßt in
unſyncopierten flexionen und wortbildungen den abge-
ſchwächten laut an ſich unverändert, d. h. háubiþ, liuhaþ,
manag behalten in háubidis, liuhadeins, managei den lant
bei, obgleich ſchwerlich den ton. Früher könnte auch
ein betonteres háubaþ, háubuþ etc. ſtattgefunden haben.
Wirklich zeigen ſich doch einige ſpuren eſoteriſches vo-
calwechſels, namentlich die ſ. 36. 40. angeführten verwand-
lungen gabeigs in gabigs; ſilêgri, ſpillê iu ſiligri, ſpilli;
krotôda, krotuda; viduvô, vidôvô; áinaha, áinô[h]ô; áinô-
mêhun, áinummêhun ſt. ainammahun (vgl. unten beim
unbeſt. pron.). Einige dieſer fälle weiſen ſogar die alth.
lautaſſimilation. — Gibt es auch in den alten ſprachen
ſolchen vocalwechſel? Man pflegt in ihnen nur zweier-
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[114/0140] I. althochdeutſche vocale. 4) aus verſchiedenen anzeigen darf man ſchließen, daß in einer früheren zeit die abweichung von dem goth. vocallauten weit geringer war, als ſie in unſern alth. denkmählern erſcheint. Man vergl. die bemerkungen ſ. 79. über die abweſenheit des umlauts e; ſ. 81. über das frühere i ſtatt ë; ſ. 84. über das ältere u ſtatt o; ſ. 86. über das ältere ê ſtatt â; ſ. 89. über den urſprung des ê aus ei; ſ. 88, 93, 97. über ein älteres a, i, u, ſt. â, î, û; ſ. 111. die ſpuren des ält. ô ſt. uo; ſ. 99. über das ält. ai, au ſt. ei, ou; ſ. 107. über das ält. iu ſt. ia, io ie, ſo wie insgemein die unorganiſche natur der drei letztgenannten diphth. 5) höchſt ſchwierig bleibt die geltung der alth. vocale in den nichtwurzelhaften theilen der wörter, nament- lich in den endungen, wo ein ganz anderes geſetz ihr verhältniß beſtimmt, als in den wurzeln. Zwar ſind auch die wurzelvocale der veränderung unterwor- fen theils durch den umlaut, theils durch mehr hi- ſtoriſche übergänge, wie wir deren zwiſchen i und ë, u und o und den diphthongen insgemein viele be- merkt haben. Gleichwohl herrſcht in ſolchen umlau- ten und übergängen ein geregelter, ruhiger gang oder es wirken dabei verſchiedenheiten der mundart. In den unradicalen wortbeſtandtheilen wechſelt hingegen der laut ſchneller und willkürlicher, wenn auch nicht ohne alle regel. Der grund liegt in der geringeren betonung. Ein gering betonter, oder tonloſer laut wird ſchwach und dadurch unſicher *). Dieſe unſicher- *) Aus der ſchwächung folgt die änderung des lauts als mög- lich, nicht als nothwendig; ohne zweifel hat die goth. ſprache tonloſe laute gehabt, zu welcher annahme ſchon ihre hänſigen ſyncopen (tonloſe und geſchwächte ſind vor- zeichen reiſender ſyncopen) bringen. Allein ſie läßt in unſyncopierten flexionen und wortbildungen den abge- ſchwächten laut an ſich unverändert, d. h. háubiþ, liuhaþ, manag behalten in háubidis, liuhadeins, managei den lant bei, obgleich ſchwerlich den ton. Früher könnte auch ein betonteres háubaþ, háubuþ etc. ſtattgefunden haben. Wirklich zeigen ſich doch einige ſpuren eſoteriſches vo- calwechſels, namentlich die ſ. 36. 40. angeführten verwand- lungen gabeigs in gabigs; ſilêgri, ſpillê iu ſiligri, ſpilli; krotôda, krotuda; viduvô, vidôvô; áinaha, áinôhô; áinô- mêhun, áinummêhun ſt. ainammahun (vgl. unten beim unbeſt. pron.). Einige dieſer fälle weiſen ſogar die alth. lautaſſimilation. — Gibt es auch in den alten ſprachen ſolchen vocalwechſel? Man pflegt in ihnen nur zweier-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/140>, abgerufen am 06.05.2024.