Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat diese sichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch, worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor- auszuschicken. Da aber durch diese vorschiebung das werk seiner ersten ausgabe vollends unähnlich geworden wäre und für den beginn des sprachstudiums die kennt- nis der declinationen jetzt noch das wichtigste scheint, verspare ich lieber die lehre von den wortbildungen. In dem ersten buche, dessen druck fast vor zwei jahren angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verschie- dene stücke abändern und nach reiferer überlegung be- richtigen, vor allem (schon nach der uralten alphabeti- schen reihe b, g, d; b, c, d) die kehl- den zungenlauten vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutschen mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte, factisch nur theilweise vorhandene streng althochdeutsche lautreihe konnte im ersten buche, wo sie die unter- suchung der buchstaben gestört hätte, nicht beobachtet werden; tritt sie selbst im zweiten zu hart vor, so feh- len uns gerade die mittel einer anschaulichen, lebendi- gen kenntnis dieser mundart, wodurch jene theorie etwa gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich schien mir scharf- positive abgrenzung für den satz der lautverschiebung (s. 584), dessen einfluß auf das etymologische studium vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt. So wie diesen die gesetze classischer metrik eine fülle grammatischer regeln offenbart haben, ist in den deut- schen denkmählern die beachtung der alliterationen und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den reim wäre fast keine geschichte unserer sprache auszu- führen. Das band der poesie soll nicht allein die hörer und sänger des lieds erfreuen, es soll auch die kraft der sprache zügeln, ihre reinheit sichern und kunde da- von auf kommende geschlechter bringen. Ungebundene prosa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or- ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer- den. Der reim hat nur schlechte dichter gezwängt, wahren gedient, ihre gewalt der sprache und des gedan- kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunst des reimes ausstirbt, weil sich die sinnliche zartheit der wurzelärmeren sprache verhärtet und neugebildete zusam- mensetzungen eine von natur steifere bewegung haben; so sind früher die metra nach dem gesetz der quantität (welches ich unserer sprache aus gebliebenen nachwir-
Vorrede.
Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat dieſe ſichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch, worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor- auszuſchicken. Da aber durch dieſe vorſchiebung das werk ſeiner erſten ausgabe vollends unähnlich geworden wäre und für den beginn des ſprachſtudiums die kennt- nis der declinationen jetzt noch das wichtigſte ſcheint, verſpare ich lieber die lehre von den wortbildungen. In dem erſten buche, deſſen druck faſt vor zwei jahren angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verſchie- dene ſtücke abändern und nach reiferer überlegung be- richtigen, vor allem (ſchon nach der uralten alphabeti- ſchen reihe β, γ, δ; b, c, d) die kehl- den zungenlauten vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutſchen mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte, factiſch nur theilweiſe vorhandene ſtreng althochdeutſche lautreihe konnte im erſten buche, wo ſie die unter- ſuchung der buchſtaben geſtört hätte, nicht beobachtet werden; tritt ſie ſelbſt im zweiten zu hart vor, ſo feh- len uns gerade die mittel einer anſchaulichen, lebendi- gen kenntnis dieſer mundart, wodurch jene theorie etwa gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich ſchien mir ſcharf- poſitive abgrenzung für den ſatz der lautverſchiebung (ſ. 584), deſſen einfluß auf das etymologiſche ſtudium vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt. So wie dieſen die geſetze claſſiſcher metrik eine fülle grammatiſcher regeln offenbart haben, iſt in den deut- ſchen denkmählern die beachtung der alliterationen und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den reim wäre faſt keine geſchichte unſerer ſprache auszu- führen. Das band der poeſie ſoll nicht allein die hörer und ſänger des lieds erfreuen, es ſoll auch die kraft der ſprache zügeln, ihre reinheit ſichern und kunde da- von auf kommende geſchlechter bringen. Ungebundene proſa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or- ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer- den. Der reim hat nur ſchlechte dichter gezwängt, wahren gedient, ihre gewalt der ſprache und des gedan- kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunſt des reimes ausſtirbt, weil ſich die ſinnliche zartheit der wurzelärmeren ſprache verhärtet und neugebildete zuſam- menſetzungen eine von natur ſteifere bewegung haben; ſo ſind früher die metra nach dem geſetz der quantität (welches ich unſerer ſprache aus gebliebenen nachwir-
<TEI><text><front><divn="1"><pbfacs="#f0013"n="VII"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g"><hirendition="#k">Vorrede</hi></hi>.</fw><lb/><p>Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat<lb/>
dieſe ſichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung<lb/>
würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch,<lb/>
worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor-<lb/>
auszuſchicken. Da aber durch dieſe vorſchiebung das<lb/>
werk ſeiner erſten ausgabe vollends unähnlich geworden<lb/>
wäre und für den beginn des ſprachſtudiums die kennt-<lb/>
nis der declinationen jetzt noch das wichtigſte ſcheint,<lb/>
verſpare ich lieber die lehre von den wortbildungen.<lb/>
In dem erſten buche, deſſen druck faſt vor zwei jahren<lb/>
angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verſchie-<lb/>
dene ſtücke abändern und nach reiferer überlegung be-<lb/>
richtigen, vor allem (ſchon nach der uralten alphabeti-<lb/>ſchen reihe <hirendition="#i">β, γ, δ</hi>; b, c, d) die kehl- den zungenlauten<lb/>
vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutſchen<lb/>
mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte,<lb/>
factiſch nur theilweiſe vorhandene ſtreng althochdeutſche<lb/>
lautreihe konnte im erſten buche, wo ſie die unter-<lb/>ſuchung der buchſtaben geſtört hätte, nicht beobachtet<lb/>
werden; tritt ſie ſelbſt im zweiten zu hart vor, ſo feh-<lb/>
len uns gerade die mittel einer anſchaulichen, lebendi-<lb/>
gen kenntnis dieſer mundart, wodurch jene theorie etwa<lb/>
gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich ſchien mir ſcharf-<lb/>
poſitive abgrenzung für den ſatz der lautverſchiebung<lb/>
(ſ. 584), deſſen einfluß auf das etymologiſche ſtudium<lb/>
vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt.<lb/>
So wie dieſen die geſetze claſſiſcher metrik eine fülle<lb/>
grammatiſcher regeln offenbart haben, iſt in den deut-<lb/>ſchen denkmählern die beachtung der alliterationen<lb/>
und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den<lb/>
reim wäre faſt keine geſchichte unſerer ſprache auszu-<lb/>
führen. Das band der poeſie ſoll nicht allein die hörer<lb/>
und ſänger des lieds erfreuen, es ſoll auch die kraft<lb/>
der ſprache zügeln, ihre reinheit ſichern und kunde da-<lb/>
von auf kommende geſchlechter bringen. Ungebundene<lb/>
proſa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or-<lb/>
ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer-<lb/>
den. Der reim hat nur ſchlechte dichter gezwängt,<lb/>
wahren gedient, ihre gewalt der ſprache und des gedan-<lb/>
kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunſt<lb/>
des reimes ausſtirbt, weil ſich die ſinnliche zartheit der<lb/>
wurzelärmeren ſprache verhärtet und neugebildete zuſam-<lb/>
menſetzungen eine von natur ſteifere bewegung haben;<lb/>ſo ſind früher die metra nach dem geſetz der quantität<lb/>
(welches ich unſerer ſprache aus gebliebenen nachwir-<lb/></p></div></front></text></TEI>
[VII/0013]
Vorrede.
Die abhandlung der laut- vor der formenlehre hat
dieſe ſichtlich gefördert; in der natürlichen ordnung
würde es gleichfalls gelegen haben, das dritte buch,
worin ich die wortbildung erörtere, dem zweiten vor-
auszuſchicken. Da aber durch dieſe vorſchiebung das
werk ſeiner erſten ausgabe vollends unähnlich geworden
wäre und für den beginn des ſprachſtudiums die kennt-
nis der declinationen jetzt noch das wichtigſte ſcheint,
verſpare ich lieber die lehre von den wortbildungen.
In dem erſten buche, deſſen druck faſt vor zwei jahren
angefangen wurde, möchte ich freilich wieder verſchie-
dene ſtücke abändern und nach reiferer überlegung be-
richtigen, vor allem (ſchon nach der uralten alphabeti-
ſchen reihe β, γ, δ; b, c, d) die kehl- den zungenlauten
vorordnen; damahls beachtete ich die folge der deutſchen
mediae: b, d, g. Die in der formenlehre durchgeführte,
factiſch nur theilweiſe vorhandene ſtreng althochdeutſche
lautreihe konnte im erſten buche, wo ſie die unter-
ſuchung der buchſtaben geſtört hätte, nicht beobachtet
werden; tritt ſie ſelbſt im zweiten zu hart vor, ſo feh-
len uns gerade die mittel einer anſchaulichen, lebendi-
gen kenntnis dieſer mundart, wodurch jene theorie etwa
gemäßigt worden wäre. Unentbehrlich ſchien mir ſcharf-
poſitive abgrenzung für den ſatz der lautverſchiebung
(ſ. 584), deſſen einfluß auf das etymologiſche ſtudium
vielleicht lat. und griech. philologen zur prüfung reitzt.
So wie dieſen die geſetze claſſiſcher metrik eine fülle
grammatiſcher regeln offenbart haben, iſt in den deut-
ſchen denkmählern die beachtung der alliterationen
und reime von außerordentlichem gewicht. Ohne den
reim wäre faſt keine geſchichte unſerer ſprache auszu-
führen. Das band der poeſie ſoll nicht allein die hörer
und ſänger des lieds erfreuen, es ſoll auch die kraft
der ſprache zügeln, ihre reinheit ſichern und kunde da-
von auf kommende geſchlechter bringen. Ungebundene
proſa läßt dem gedächtnis den inhalt verhallen, den or-
ganen die wahre belautung der worte zweifelhaft wer-
den. Der reim hat nur ſchlechte dichter gezwängt,
wahren gedient, ihre gewalt der ſprache und des gedan-
kens zu enthüllen. Es gibt aber zeiten, wo die kunſt
des reimes ausſtirbt, weil ſich die ſinnliche zartheit der
wurzelärmeren ſprache verhärtet und neugebildete zuſam-
menſetzungen eine von natur ſteifere bewegung haben;
ſo ſind früher die metra nach dem geſetz der quantität
(welches ich unſerer ſprache aus gebliebenen nachwir-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/13>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.