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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Ursachen der Hallucinationen.

2) Alle tiefen Erschöpfungszustände auf geistiger oder leiblicher
Seite scheinen das Auftreten der Hallucinationen zu begünstigen. Wie
die strenge Ascese aus religiösen Motiven in früheren Jahrhunderten
zahlreiche Hallucinationen hervorbrachte, so sehen wir heute noch
ganz besonders häufig nach Exaninitionen, langem Fasten, sexueller
Erschöpfung, tiefer, geistiger Ermüdung etc., Sinnendelirien auftreten.
Ganz besonders werden diese durch gleichzeitige psychische Concen-
tration, durch inbrünstig festgehaltene abergläubische Vorstellungen
befördert (Benvenuto-Cellini. Viele Teufels- und religiöse Visionen).

3) Die krankhaften affectartigen Zustände, aus denen das Irresein
so häufig besteht, rufen Hallucinationen und Illusionen in der-
selben Weise hervor, wie die analogen Zustände, Furcht, Schrecken
etc. beim Gesunden die Sinneswahrnehmung trüben und neue falsche
Sinnesbilder wecken.

4) Ein besonders wichtiges Verhältniss ist das Entstehen der
Hallucinationen zwischen Schlaf und Wachen. Ihr Vorkommen unter
diesen Umständen bei Gesunden ist bekannt und besonders J. Müllers
Beschreibung dieser Vorgänge aus eigener Erfahrung häufig physio-
logisch besprochen. *) Die Beobachtung zeigt, dass sie auch bei
Geisteskranken sehr häufig während des Einschlafens entstehen, und
dass namentlich ihr erster Anfang sich oft in diese Zeit datiren lässt. **)
Wenn sie unter diesen Umständen, in der Anfangsperiode des Irre-
seins, längere Zeit gedauert haben, werden sie häufig anhaltend,
kommen nun auch bei völligem Wachen und erregen Delirien; in
einzelnen seltenen Fällen sah man aber einen Manieanfall schon am
ersten Tage den zwischen Schlaf und Wachen aufgetretenen Hallu-
cinationen folgen. Wie aber bei den zu Hallucinationen Disponirten
zuweilen schon das blosse Schliessen der Augen genügt, um solche
hervorzurufen (Göthe und J. Müller erzählen dieses von sich selbst ***),
so fand man zuweilen auch bei Geisteskranken, dass das einfache
Niederschlagen der Augendeckel die Hallucinationen erscheinen liess
(Baillarger l. c.) -- Fälle, die den im §. 47. mitgetheilten, wo die
Gesichtsphantasmen durch Schliessen der Augen verschwanden, gegen-
überstehen und von Neuem an die grosse Mannigfaltigkeit in den
verwickelten Phänomenen der Hallucinationen erinnern.

*) S. Müller, phantastische Gesichtserscheinungen. Blumröder, über Ein-
schlafen, Traum, Schlaf etc. in Friedreichs Magazin. 1830. III. p. 87.
**) Baillarger, Archives gener. 1842. III. p. 354.
***) Müller, l. c. p. 21, 27.
Ursachen der Hallucinationen.

2) Alle tiefen Erschöpfungszustände auf geistiger oder leiblicher
Seite scheinen das Auftreten der Hallucinationen zu begünstigen. Wie
die strenge Ascese aus religiösen Motiven in früheren Jahrhunderten
zahlreiche Hallucinationen hervorbrachte, so sehen wir heute noch
ganz besonders häufig nach Exaninitionen, langem Fasten, sexueller
Erschöpfung, tiefer, geistiger Ermüdung etc., Sinnendelirien auftreten.
Ganz besonders werden diese durch gleichzeitige psychische Concen-
tration, durch inbrünstig festgehaltene abergläubische Vorstellungen
befördert (Benvenuto-Cellini. Viele Teufels- und religiöse Visionen).

3) Die krankhaften affectartigen Zustände, aus denen das Irresein
so häufig besteht, rufen Hallucinationen und Illusionen in der-
selben Weise hervor, wie die analogen Zustände, Furcht, Schrecken
etc. beim Gesunden die Sinneswahrnehmung trüben und neue falsche
Sinnesbilder wecken.

4) Ein besonders wichtiges Verhältniss ist das Entstehen der
Hallucinationen zwischen Schlaf und Wachen. Ihr Vorkommen unter
diesen Umständen bei Gesunden ist bekannt und besonders J. Müllers
Beschreibung dieser Vorgänge aus eigener Erfahrung häufig physio-
logisch besprochen. *) Die Beobachtung zeigt, dass sie auch bei
Geisteskranken sehr häufig während des Einschlafens entstehen, und
dass namentlich ihr erster Anfang sich oft in diese Zeit datiren lässt. **)
Wenn sie unter diesen Umständen, in der Anfangsperiode des Irre-
seins, längere Zeit gedauert haben, werden sie häufig anhaltend,
kommen nun auch bei völligem Wachen und erregen Delirien; in
einzelnen seltenen Fällen sah man aber einen Manieanfall schon am
ersten Tage den zwischen Schlaf und Wachen aufgetretenen Hallu-
cinationen folgen. Wie aber bei den zu Hallucinationen Disponirten
zuweilen schon das blosse Schliessen der Augen genügt, um solche
hervorzurufen (Göthe und J. Müller erzählen dieses von sich selbst ***),
so fand man zuweilen auch bei Geisteskranken, dass das einfache
Niederschlagen der Augendeckel die Hallucinationen erscheinen liess
(Baillarger l. c.) — Fälle, die den im §. 47. mitgetheilten, wo die
Gesichtsphantasmen durch Schliessen der Augen verschwanden, gegen-
überstehen und von Neuem an die grosse Mannigfaltigkeit in den
verwickelten Phänomenen der Hallucinationen erinnern.

*) S. Müller, phantastische Gesichtserscheinungen. Blumröder, über Ein-
schlafen, Traum, Schlaf etc. in Friedreichs Magazin. 1830. III. p. 87.
**) Baillarger, Archives géner. 1842. III. p. 354.
***) Müller, l. c. p. 21, 27.
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[78/0092] Ursachen der Hallucinationen. 2) Alle tiefen Erschöpfungszustände auf geistiger oder leiblicher Seite scheinen das Auftreten der Hallucinationen zu begünstigen. Wie die strenge Ascese aus religiösen Motiven in früheren Jahrhunderten zahlreiche Hallucinationen hervorbrachte, so sehen wir heute noch ganz besonders häufig nach Exaninitionen, langem Fasten, sexueller Erschöpfung, tiefer, geistiger Ermüdung etc., Sinnendelirien auftreten. Ganz besonders werden diese durch gleichzeitige psychische Concen- tration, durch inbrünstig festgehaltene abergläubische Vorstellungen befördert (Benvenuto-Cellini. Viele Teufels- und religiöse Visionen). 3) Die krankhaften affectartigen Zustände, aus denen das Irresein so häufig besteht, rufen Hallucinationen und Illusionen in der- selben Weise hervor, wie die analogen Zustände, Furcht, Schrecken etc. beim Gesunden die Sinneswahrnehmung trüben und neue falsche Sinnesbilder wecken. 4) Ein besonders wichtiges Verhältniss ist das Entstehen der Hallucinationen zwischen Schlaf und Wachen. Ihr Vorkommen unter diesen Umständen bei Gesunden ist bekannt und besonders J. Müllers Beschreibung dieser Vorgänge aus eigener Erfahrung häufig physio- logisch besprochen. *) Die Beobachtung zeigt, dass sie auch bei Geisteskranken sehr häufig während des Einschlafens entstehen, und dass namentlich ihr erster Anfang sich oft in diese Zeit datiren lässt. **) Wenn sie unter diesen Umständen, in der Anfangsperiode des Irre- seins, längere Zeit gedauert haben, werden sie häufig anhaltend, kommen nun auch bei völligem Wachen und erregen Delirien; in einzelnen seltenen Fällen sah man aber einen Manieanfall schon am ersten Tage den zwischen Schlaf und Wachen aufgetretenen Hallu- cinationen folgen. Wie aber bei den zu Hallucinationen Disponirten zuweilen schon das blosse Schliessen der Augen genügt, um solche hervorzurufen (Göthe und J. Müller erzählen dieses von sich selbst ***), so fand man zuweilen auch bei Geisteskranken, dass das einfache Niederschlagen der Augendeckel die Hallucinationen erscheinen liess (Baillarger l. c.) — Fälle, die den im §. 47. mitgetheilten, wo die Gesichtsphantasmen durch Schliessen der Augen verschwanden, gegen- überstehen und von Neuem an die grosse Mannigfaltigkeit in den verwickelten Phänomenen der Hallucinationen erinnern. *) S. Müller, phantastische Gesichtserscheinungen. Blumröder, über Ein- schlafen, Traum, Schlaf etc. in Friedreichs Magazin. 1830. III. p. 87. **) Baillarger, Archives géner. 1842. III. p. 354. ***) Müller, l. c. p. 21, 27.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/92>, abgerufen am 04.05.2024.