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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Hallucinationen Geistesgesunder.
halten des Individuums zu seinen Hallucinationen beruhen.
Noch mehr Einfluss hierauf aber hat einestheils die Beschaffenheit
der Gehirnfunctionen im Ganzen, insoferne sie einen grösseren oder
niedereren Grad von Besonnenheit zulassen, anderntheils namentlich die
Bildungsstufe und die Lebensansichten, die das Subject früher hatte.

Hallucinationen kommen durchaus nicht bloss in geistes-
kranken Zuständen
vor. Dass der Traum, -- auf den wir unten
noch einmal zurückkommen --, der Rausch, der Schwindel und ana-
loge Zustände Sinnesphantasmen vorführen, ist bekannt. Aber auch
abgesehen hievon sind Hallucinationen bei Nicht-Irren durchaus
nichts Seltenes. Der allbekannte Fall von Nicolai, die schon er-
wähnte, von Bonnet erzählte Thatsache, mehre der Fälle von Patter-
son, alle religiösen Visionen u. dergl. sind Beispiele hiefür. Nichts
wäre irriger, als einen Menschen desswegen, weil er Hallucinationen
hat, für geisteskrank halten zu wollen. Die vielfältigsten Erfahrungen
zeigen vielmehr, dass gerade im Leben geistig hochstehender und
ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung und
Gemüthsart, namentlich aber von sinnlich warmer und kräftiger Phan-
tasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden. Tasso, der in
Manso's Gegenwart jenes lange Zwiegespräch mit seinem Schutzgeist
führte, Göthe's bekannte (hechtgraue) Selbstvision und seine phan-
tastisch sprossenden idealen Blumen, Walter-Scotts Erscheinung,
die ihm seinen verstorbenen Freund Byron in den Falten eines Vor-
hangs vorführte, Jean-Pauls zum Fenster herabsehender kindlicher
Mädchenkopf, *) Benvenuto-Cellini's Sonnenvision mögen als Bei-
spiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza **), Pascal ***)
hatten Hallucinationen, Van-Helmont sah seine eigene Seele als
ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral +) erzählt von sich
selbst ein Gesichts-, Leuret aus eigener Erfahrung ein Gehörsphan-
tasma; ++) und nach unsern individuellen Beobachtungen sind wir
geneigt, sie auch bei geistig wenig hervorragenden Menschen als nicht
ganz seltene, aber häufig übersehene Phänomene zu betrachten. +++)

*) Jean Paul, Museum. Blicke in die Traumwelt. Anmerkung zu §. 3.
**) Spinoza, Epistola XXX. an Peter Balling.
***) Seit einem gefährlichen Sturze auf der Brücke von Neuilly sah Paseal
stets einen Abgrund vor sich.
+) Die specielle Pathologie, übers. von Unger. III. 1837. p. 140.
++) Fragmens psycholog. p. 135.
+++) Der Verf. dieser Schrift erinnert sich etwa aus seinem 7ten Lebensjahre
einer Gesichtshallucination; seither erfuhr er nichts mehr dergleichen, bis --

Hallucinationen Geistesgesunder.
halten des Individuums zu seinen Hallucinationen beruhen.
Noch mehr Einfluss hierauf aber hat einestheils die Beschaffenheit
der Gehirnfunctionen im Ganzen, insoferne sie einen grösseren oder
niedereren Grad von Besonnenheit zulassen, anderntheils namentlich die
Bildungsstufe und die Lebensansichten, die das Subject früher hatte.

Hallucinationen kommen durchaus nicht bloss in geistes-
kranken Zuständen
vor. Dass der Traum, — auf den wir unten
noch einmal zurückkommen —, der Rausch, der Schwindel und ana-
loge Zustände Sinnesphantasmen vorführen, ist bekannt. Aber auch
abgesehen hievon sind Hallucinationen bei Nicht-Irren durchaus
nichts Seltenes. Der allbekannte Fall von Nicolai, die schon er-
wähnte, von Bonnet erzählte Thatsache, mehre der Fälle von Patter-
son, alle religiösen Visionen u. dergl. sind Beispiele hiefür. Nichts
wäre irriger, als einen Menschen desswegen, weil er Hallucinationen
hat, für geisteskrank halten zu wollen. Die vielfältigsten Erfahrungen
zeigen vielmehr, dass gerade im Leben geistig hochstehender und
ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung und
Gemüthsart, namentlich aber von sinnlich warmer und kräftiger Phan-
tasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden. Tasso, der in
Manso’s Gegenwart jenes lange Zwiegespräch mit seinem Schutzgeist
führte, Göthe’s bekannte (hechtgraue) Selbstvision und seine phan-
tastisch sprossenden idealen Blumen, Walter-Scotts Erscheinung,
die ihm seinen verstorbenen Freund Byron in den Falten eines Vor-
hangs vorführte, Jean-Pauls zum Fenster herabsehender kindlicher
Mädchenkopf, *) Benvenuto-Cellini’s Sonnenvision mögen als Bei-
spiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza **), Pascal ***)
hatten Hallucinationen, Van-Helmont sah seine eigene Seele als
ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral †) erzählt von sich
selbst ein Gesichts-, Leuret aus eigener Erfahrung ein Gehörsphan-
tasma; ††) und nach unsern individuellen Beobachtungen sind wir
geneigt, sie auch bei geistig wenig hervorragenden Menschen als nicht
ganz seltene, aber häufig übersehene Phänomene zu betrachten. †††)

*) Jean Paul, Museum. Blicke in die Traumwelt. Anmerkung zu §. 3.
**) Spinoza, Epistola XXX. an Peter Balling.
***) Seit einem gefährlichen Sturze auf der Brücke von Neuilly sah Paseal
stets einen Abgrund vor sich.
†) Die specielle Pathologie, übers. von Unger. III. 1837. p. 140.
††) Fragmens psycholog. p. 135.
†††) Der Verf. dieser Schrift erinnert sich etwa aus seinem 7ten Lebensjahre
einer Gesichtshallucination; seither erfuhr er nichts mehr dergleichen, bis —
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[74/0088] Hallucinationen Geistesgesunder. halten des Individuums zu seinen Hallucinationen beruhen. Noch mehr Einfluss hierauf aber hat einestheils die Beschaffenheit der Gehirnfunctionen im Ganzen, insoferne sie einen grösseren oder niedereren Grad von Besonnenheit zulassen, anderntheils namentlich die Bildungsstufe und die Lebensansichten, die das Subject früher hatte. Hallucinationen kommen durchaus nicht bloss in geistes- kranken Zuständen vor. Dass der Traum, — auf den wir unten noch einmal zurückkommen —, der Rausch, der Schwindel und ana- loge Zustände Sinnesphantasmen vorführen, ist bekannt. Aber auch abgesehen hievon sind Hallucinationen bei Nicht-Irren durchaus nichts Seltenes. Der allbekannte Fall von Nicolai, die schon er- wähnte, von Bonnet erzählte Thatsache, mehre der Fälle von Patter- son, alle religiösen Visionen u. dergl. sind Beispiele hiefür. Nichts wäre irriger, als einen Menschen desswegen, weil er Hallucinationen hat, für geisteskrank halten zu wollen. Die vielfältigsten Erfahrungen zeigen vielmehr, dass gerade im Leben geistig hochstehender und ausgezeichneter Menschen von verschiedenster Geistesrichtung und Gemüthsart, namentlich aber von sinnlich warmer und kräftiger Phan- tasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden. Tasso, der in Manso’s Gegenwart jenes lange Zwiegespräch mit seinem Schutzgeist führte, Göthe’s bekannte (hechtgraue) Selbstvision und seine phan- tastisch sprossenden idealen Blumen, Walter-Scotts Erscheinung, die ihm seinen verstorbenen Freund Byron in den Falten eines Vor- hangs vorführte, Jean-Pauls zum Fenster herabsehender kindlicher Mädchenkopf, *) Benvenuto-Cellini’s Sonnenvision mögen als Bei- spiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza **), Pascal ***) hatten Hallucinationen, Van-Helmont sah seine eigene Seele als ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral †) erzählt von sich selbst ein Gesichts-, Leuret aus eigener Erfahrung ein Gehörsphan- tasma; ††) und nach unsern individuellen Beobachtungen sind wir geneigt, sie auch bei geistig wenig hervorragenden Menschen als nicht ganz seltene, aber häufig übersehene Phänomene zu betrachten. †††) *) Jean Paul, Museum. Blicke in die Traumwelt. Anmerkung zu §. 3. **) Spinoza, Epistola XXX. an Peter Balling. ***) Seit einem gefährlichen Sturze auf der Brücke von Neuilly sah Paseal stets einen Abgrund vor sich. †) Die specielle Pathologie, übers. von Unger. III. 1837. p. 140. ††) Fragmens psycholog. p. 135. †††) Der Verf. dieser Schrift erinnert sich etwa aus seinem 7ten Lebensjahre einer Gesichtshallucination; seither erfuhr er nichts mehr dergleichen, bis —

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/88>, abgerufen am 27.11.2024.