im Bette (Bouillaud, traite de l'encephalite. Paris 1825. p. 64). Solche falsche Urtheile gehören bereits zu den -- alsbald zu betrachtenden -- sog. Illusionen; weitere Beispiele finden sich im §. 55.
§. 44.
Von den Anästhesieen der Geisteskranken ist noch näher zu sprechen. Die verringerte oder ganz aufgehobene Empfindlichkeit der Haut für Temperatur- und Schmerzeindrücke ist zwar nicht sehr häufig, noch viel weniger allgemein bei den Irren -- man wird im Gegen- theil bei Einzelnen eine übermässige Schmerzempfänglichkeit finden (Esquirol erzählt einen solchen Fall) und man wird in den Irren- anstalten Winters bemerken, wie, mit ganz wenigen Ausnahmen, die Kranken stets die Wärme suchen. Doch kommen Fälle vorübergehen- der und anhaltenderer Hautanästhesie (wie schon im vorigen §. an einzelnen Beispielen gezeigt) vor, am meisten in melancholischen und blödsinnigen Zuständen, und eine genaue Durchprüfung der Haut- empfindlichkeit an den verschiedenen Körpertheilen sollte nie unter- lassen werden.
Rochoux berichtete neuerlich (Sitzung der Academie de medecine vom 22. Decbr. 1840) einen Unglücksfall, der durch Anästhesie des Kranken entstand. Ein Geisteskranker in Bicetre brachte, während Niemand im Zimmer war, seinen Kopf an das rothglühende Eisen des Ofens und seine Arme mitten in die innere Gluth. Erst der heftige Gestank zog Leute herbei; der Kranke war ganz gleich- gültig und gab durchaus kein Zeichen von Schmerz, ungeachtet die Arme bis auf die Knochen verbrannt waren.
Ueber eine ganz andere Art von Anästhesie, die weit mehr den geistigen, innerlichsten Act beim Empfinden betrifft, hören wir zu- weilen Geisteskranke, namentlich Melancholische klagen. "Ich sehe, ich höre, ich fühle," sagen solche Kranke, "aber die Gegenstände gelangen nicht bis zu mir, ich kann die Empfindung nicht aufnehmen, es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt" etc. Man findet bei solchen Kranken zuweilen eine Verminderung der pe- ripherischen Hautsensibilität, so dass ihnen die Gegenstände etwas undeutlicher, auch rauh, wollig erscheinen; aber, wenn diess auch immer dabei wäre, würde es zur Deutung jenes Phänomens nicht ausreichen. Jene Abweichungen in der Perception der Empfindungen erinnern vielmehr an die Umänderung, die überhaupt unser geistiges Verhältniss zur Sinnenwelt theils in den verschiedenen Lebensaltern, theils in den Affecten und leidenschaftlichen Zuständen erleidet. Im kindlichen Alter fühlen wir uns der Welt der sinnlichen Erscheinung näher, wir leben unmittelbar mit und in ihr, ein nahes Band eines
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Die Anästhesieen.
im Bette (Bouillaud, traité de l’encéphalite. Paris 1825. p. 64). Solche falsche Urtheile gehören bereits zu den — alsbald zu betrachtenden — sog. Illusionen; weitere Beispiele finden sich im §. 55.
§. 44.
Von den Anästhesieen der Geisteskranken ist noch näher zu sprechen. Die verringerte oder ganz aufgehobene Empfindlichkeit der Haut für Temperatur- und Schmerzeindrücke ist zwar nicht sehr häufig, noch viel weniger allgemein bei den Irren — man wird im Gegen- theil bei Einzelnen eine übermässige Schmerzempfänglichkeit finden (Esquirol erzählt einen solchen Fall) und man wird in den Irren- anstalten Winters bemerken, wie, mit ganz wenigen Ausnahmen, die Kranken stets die Wärme suchen. Doch kommen Fälle vorübergehen- der und anhaltenderer Hautanästhesie (wie schon im vorigen §. an einzelnen Beispielen gezeigt) vor, am meisten in melancholischen und blödsinnigen Zuständen, und eine genaue Durchprüfung der Haut- empfindlichkeit an den verschiedenen Körpertheilen sollte nie unter- lassen werden.
Rochoux berichtete neuerlich (Sitzung der Académie de médecine vom 22. Decbr. 1840) einen Unglücksfall, der durch Anästhesie des Kranken entstand. Ein Geisteskranker in Bicêtre brachte, während Niemand im Zimmer war, seinen Kopf an das rothglühende Eisen des Ofens und seine Arme mitten in die innere Gluth. Erst der heftige Gestank zog Leute herbei; der Kranke war ganz gleich- gültig und gab durchaus kein Zeichen von Schmerz, ungeachtet die Arme bis auf die Knochen verbrannt waren.
Ueber eine ganz andere Art von Anästhesie, die weit mehr den geistigen, innerlichsten Act beim Empfinden betrifft, hören wir zu- weilen Geisteskranke, namentlich Melancholische klagen. „Ich sehe, ich höre, ich fühle,“ sagen solche Kranke, „aber die Gegenstände gelangen nicht bis zu mir, ich kann die Empfindung nicht aufnehmen, es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt“ etc. Man findet bei solchen Kranken zuweilen eine Verminderung der pe- ripherischen Hautsensibilität, so dass ihnen die Gegenstände etwas undeutlicher, auch rauh, wollig erscheinen; aber, wenn diess auch immer dabei wäre, würde es zur Deutung jenes Phänomens nicht ausreichen. Jene Abweichungen in der Perception der Empfindungen erinnern vielmehr an die Umänderung, die überhaupt unser geistiges Verhältniss zur Sinnenwelt theils in den verschiedenen Lebensaltern, theils in den Affecten und leidenschaftlichen Zuständen erleidet. Im kindlichen Alter fühlen wir uns der Welt der sinnlichen Erscheinung näher, wir leben unmittelbar mit und in ihr, ein nahes Band eines
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Die Anästhesieen.
im Bette (Bouillaud, traité de l’encéphalite. Paris 1825. p. 64). Solche falsche
Urtheile gehören bereits zu den — alsbald zu betrachtenden — sog. Illusionen;
weitere Beispiele finden sich im §. 55.
§. 44.
Von den Anästhesieen der Geisteskranken ist noch näher zu
sprechen. Die verringerte oder ganz aufgehobene Empfindlichkeit der
Haut für Temperatur- und Schmerzeindrücke ist zwar nicht sehr häufig,
noch viel weniger allgemein bei den Irren — man wird im Gegen-
theil bei Einzelnen eine übermässige Schmerzempfänglichkeit finden
(Esquirol erzählt einen solchen Fall) und man wird in den Irren-
anstalten Winters bemerken, wie, mit ganz wenigen Ausnahmen, die
Kranken stets die Wärme suchen. Doch kommen Fälle vorübergehen-
der und anhaltenderer Hautanästhesie (wie schon im vorigen §. an
einzelnen Beispielen gezeigt) vor, am meisten in melancholischen
und blödsinnigen Zuständen, und eine genaue Durchprüfung der Haut-
empfindlichkeit an den verschiedenen Körpertheilen sollte nie unter-
lassen werden.
Rochoux berichtete neuerlich (Sitzung der Académie de médecine vom
22. Decbr. 1840) einen Unglücksfall, der durch Anästhesie des Kranken entstand.
Ein Geisteskranker in Bicêtre brachte, während Niemand im Zimmer war, seinen
Kopf an das rothglühende Eisen des Ofens und seine Arme mitten in die innere
Gluth. Erst der heftige Gestank zog Leute herbei; der Kranke war ganz gleich-
gültig und gab durchaus kein Zeichen von Schmerz, ungeachtet die Arme bis auf
die Knochen verbrannt waren.
Ueber eine ganz andere Art von Anästhesie, die weit mehr den
geistigen, innerlichsten Act beim Empfinden betrifft, hören wir zu-
weilen Geisteskranke, namentlich Melancholische klagen. „Ich sehe,
ich höre, ich fühle,“ sagen solche Kranke, „aber die Gegenstände
gelangen nicht bis zu mir, ich kann die Empfindung nicht aufnehmen,
es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Aussenwelt“ etc.
Man findet bei solchen Kranken zuweilen eine Verminderung der pe-
ripherischen Hautsensibilität, so dass ihnen die Gegenstände etwas
undeutlicher, auch rauh, wollig erscheinen; aber, wenn diess auch
immer dabei wäre, würde es zur Deutung jenes Phänomens nicht
ausreichen. Jene Abweichungen in der Perception der Empfindungen
erinnern vielmehr an die Umänderung, die überhaupt unser geistiges
Verhältniss zur Sinnenwelt theils in den verschiedenen Lebensaltern,
theils in den Affecten und leidenschaftlichen Zuständen erleidet. Im
kindlichen Alter fühlen wir uns der Welt der sinnlichen Erscheinung
näher, wir leben unmittelbar mit und in ihr, ein nahes Band eines
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/81>, abgerufen am 09.11.2024.
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