Indessen bemerke man hier gleich die enorme Wichtigkeit, welche die Be- schaffenheit des vorhandenen (alten) Ich in diesen Zuständen haben muss. Ein schwaches Ich wird von dem neuen, anomalen Vorstellen eher überwunden werden, als ein starkes. Eine langsame, schleichende Durchdringung der alten Vor- stellungscomplexe durch die neuen wird zwar viel geringere Gemüthsbewegungen setzen, aber, indem es das Ich auch weniger zum Widerstande auffordert, dasselbe um so sicherer zersetzen und absorbiren. Die Dauer der Krankheit wird unter allen Umständen von grösster Wichtigkeit sein. Die neuen Vorstellungsmassen werden dem Ich um so gefährlicher sein, je mehr sie ihrem Inhalte nach schon Verwandtschaft mit den alten Vorstellungscomplexen haben; dann wird die Bei- mischung leichter, aber auch das Resultat eine gegen den früheren Zustand weniger auffallende Veränderung des Ich sein. Alle diese Sätze werden von der täglichen Erfahrung aufs bündigste bestätigt.
§. 27.
Ein einfacher, jedem Bewusstsein bekannter Unterschied im Vor- stellen besteht darin, dass dasselbe bald als ein ruhiges Phantasiren oder Denken fortgeht, und dass es anderemale von einer stärkeren Schwankung, von einer allgemeinen psychischen Unruhe begleitet wird. Im ersten Falle verhalten sich die Vorstellungsmassen, die das Ich repräsentiren, zu dem eben im Bewusstsein befindlichen Vorstellen als ruhige Zuschauer; indem sie es appercipiren, werden sie nur schwach und langsam von ihm verändert, und wenn sich dabei auch dunkle Urtheile über die Förderung oder Hemmung des Ich ergeben (Lust oder Unlust), so sind diese von geringer Intensität. Im zweiten Fall erregt ein lebhafter Vorgang im Bewusstsein, z. B. eine plötzlich gegebene Vorstellungsmasse oder ein Trieb, der sich heftig geltend macht, einen tumultuarischen Auftritt. Durch jenen Vorgang nämlich werden einzelne ruhende Vorstellungshaufen schnell heraufgezogen, diese bringen andere mit sich, noch andere werden schnell aber nicht ohne Widerstand zurückgetrieben und das Ich muss dadurch nothwendig in der Weise lebhafterer Förderung oder Hemmung, leb- hafterer Lust oder Unlust afficirt werden.
Jene dunkeln Urtheile, psychische Unlust oder Lust (S. §. 18.), geben den Grundinhalt unserer Gefühle. Ihre Dunkelheit fällt vor allem als ein Unter- schied des Fühlens vom Vorstellen in die Augen und wir sehen die Gefühle als solche um so mehr abnehmen, je mehr jene undeutlichen Urtheile in klare Vor- stellungen auseinandergehen und sich in solche umsetzen. Ein Kunstwerk z. B. erregt uns anfangs nur ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, dann erheben sich allmählig deutlichere und klarere Vorstellungen, die sich zu einzeln sagbaren Urtheilen verbinden; während solcher inneren Be- sprechung wird das Gefühl allmählig schwächer, und wollen wir, nach vollständiger Beendigung derselben, das Kunstwerk noch weiter rein fühlend geniessen, so kann diess nur mit momentanem Abstrahiren von unsern deutlichen Urtheilen geschehen.
Das Fühlen.
Indessen bemerke man hier gleich die enorme Wichtigkeit, welche die Be- schaffenheit des vorhandenen (alten) Ich in diesen Zuständen haben muss. Ein schwaches Ich wird von dem neuen, anomalen Vorstellen eher überwunden werden, als ein starkes. Eine langsame, schleichende Durchdringung der alten Vor- stellungscomplexe durch die neuen wird zwar viel geringere Gemüthsbewegungen setzen, aber, indem es das Ich auch weniger zum Widerstande auffordert, dasselbe um so sicherer zersetzen und absorbiren. Die Dauer der Krankheit wird unter allen Umständen von grösster Wichtigkeit sein. Die neuen Vorstellungsmassen werden dem Ich um so gefährlicher sein, je mehr sie ihrem Inhalte nach schon Verwandtschaft mit den alten Vorstellungscomplexen haben; dann wird die Bei- mischung leichter, aber auch das Resultat eine gegen den früheren Zustand weniger auffallende Veränderung des Ich sein. Alle diese Sätze werden von der täglichen Erfahrung aufs bündigste bestätigt.
§. 27.
Ein einfacher, jedem Bewusstsein bekannter Unterschied im Vor- stellen besteht darin, dass dasselbe bald als ein ruhiges Phantasiren oder Denken fortgeht, und dass es anderemale von einer stärkeren Schwankung, von einer allgemeinen psychischen Unruhe begleitet wird. Im ersten Falle verhalten sich die Vorstellungsmassen, die das Ich repräsentiren, zu dem eben im Bewusstsein befindlichen Vorstellen als ruhige Zuschauer; indem sie es appercipiren, werden sie nur schwach und langsam von ihm verändert, und wenn sich dabei auch dunkle Urtheile über die Förderung oder Hemmung des Ich ergeben (Lust oder Unlust), so sind diese von geringer Intensität. Im zweiten Fall erregt ein lebhafter Vorgang im Bewusstsein, z. B. eine plötzlich gegebene Vorstellungsmasse oder ein Trieb, der sich heftig geltend macht, einen tumultuarischen Auftritt. Durch jenen Vorgang nämlich werden einzelne ruhende Vorstellungshaufen schnell heraufgezogen, diese bringen andere mit sich, noch andere werden schnell aber nicht ohne Widerstand zurückgetrieben und das Ich muss dadurch nothwendig in der Weise lebhafterer Förderung oder Hemmung, leb- hafterer Lust oder Unlust afficirt werden.
Jene dunkeln Urtheile, psychische Unlust oder Lust (S. §. 18.), geben den Grundinhalt unserer Gefühle. Ihre Dunkelheit fällt vor allem als ein Unter- schied des Fühlens vom Vorstellen in die Augen und wir sehen die Gefühle als solche um so mehr abnehmen, je mehr jene undeutlichen Urtheile in klare Vor- stellungen auseinandergehen und sich in solche umsetzen. Ein Kunstwerk z. B. erregt uns anfangs nur ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl von Gefallen oder Missfallen, dann erheben sich allmählig deutlichere und klarere Vorstellungen, die sich zu einzeln sagbaren Urtheilen verbinden; während solcher inneren Be- sprechung wird das Gefühl allmählig schwächer, und wollen wir, nach vollständiger Beendigung derselben, das Kunstwerk noch weiter rein fühlend geniessen, so kann diess nur mit momentanem Abstrahiren von unsern deutlichen Urtheilen geschehen.
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[41/0055]
Das Fühlen.
Indessen bemerke man hier gleich die enorme Wichtigkeit, welche die Be-
schaffenheit des vorhandenen (alten) Ich in diesen Zuständen haben muss. Ein
schwaches Ich wird von dem neuen, anomalen Vorstellen eher überwunden werden,
als ein starkes. Eine langsame, schleichende Durchdringung der alten Vor-
stellungscomplexe durch die neuen wird zwar viel geringere Gemüthsbewegungen
setzen, aber, indem es das Ich auch weniger zum Widerstande auffordert, dasselbe
um so sicherer zersetzen und absorbiren. Die Dauer der Krankheit wird unter
allen Umständen von grösster Wichtigkeit sein. Die neuen Vorstellungsmassen
werden dem Ich um so gefährlicher sein, je mehr sie ihrem Inhalte nach schon
Verwandtschaft mit den alten Vorstellungscomplexen haben; dann wird die Bei-
mischung leichter, aber auch das Resultat eine gegen den früheren Zustand
weniger auffallende Veränderung des Ich sein. Alle diese Sätze werden von der
täglichen Erfahrung aufs bündigste bestätigt.
§. 27.
Ein einfacher, jedem Bewusstsein bekannter Unterschied im Vor-
stellen besteht darin, dass dasselbe bald als ein ruhiges Phantasiren
oder Denken fortgeht, und dass es anderemale von einer stärkeren
Schwankung, von einer allgemeinen psychischen Unruhe begleitet wird.
Im ersten Falle verhalten sich die Vorstellungsmassen, die das Ich
repräsentiren, zu dem eben im Bewusstsein befindlichen Vorstellen
als ruhige Zuschauer; indem sie es appercipiren, werden sie nur
schwach und langsam von ihm verändert, und wenn sich dabei auch
dunkle Urtheile über die Förderung oder Hemmung des Ich ergeben
(Lust oder Unlust), so sind diese von geringer Intensität. Im zweiten
Fall erregt ein lebhafter Vorgang im Bewusstsein, z. B. eine plötzlich
gegebene Vorstellungsmasse oder ein Trieb, der sich heftig geltend
macht, einen tumultuarischen Auftritt. Durch jenen Vorgang nämlich
werden einzelne ruhende Vorstellungshaufen schnell heraufgezogen,
diese bringen andere mit sich, noch andere werden schnell aber
nicht ohne Widerstand zurückgetrieben und das Ich muss dadurch
nothwendig in der Weise lebhafterer Förderung oder Hemmung, leb-
hafterer Lust oder Unlust afficirt werden.
Jene dunkeln Urtheile, psychische Unlust oder Lust (S. §. 18.), geben den
Grundinhalt unserer Gefühle. Ihre Dunkelheit fällt vor allem als ein Unter-
schied des Fühlens vom Vorstellen in die Augen und wir sehen die Gefühle als
solche um so mehr abnehmen, je mehr jene undeutlichen Urtheile in klare Vor-
stellungen auseinandergehen und sich in solche umsetzen. Ein Kunstwerk z. B.
erregt uns anfangs nur ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl von Gefallen
oder Missfallen, dann erheben sich allmählig deutlichere und klarere Vorstellungen,
die sich zu einzeln sagbaren Urtheilen verbinden; während solcher inneren Be-
sprechung wird das Gefühl allmählig schwächer, und wollen wir, nach vollständiger
Beendigung derselben, das Kunstwerk noch weiter rein fühlend geniessen, so kann
diess nur mit momentanem Abstrahiren von unsern deutlichen Urtheilen geschehen.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/55>, abgerufen am 23.11.2024.
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