Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.Geistiges Leben in der Anstalt. muss in den Irrenanstalten ein etwas straffer, angezogener Geist,nicht das Laisser-aller der falschen Gemüthlichkeit herrschen; es muss auf pünktliche Zeiteintheilung, strengste Ordnung und treue Pflicht- erfüllung genau gesehen werden. Dem Eintretenden, Gesunden oder Kranken, muss der wohlthuende Eindruck entgegen kommen, dass hier die Vernunft, nicht die Unvernunft herrsche; ein Character von Frieden und Ruhe muss durch das Ganze gehen, und die consequente Energie in allem Heilsamen muss in geräuschlosen, milden Formen auftreten, wie die einschliessende Ringmauer von Innen dem Kranken durch freundliches Gebüsch zugedeckt wird. -- Der Umgang unter den Kranken selbst muss nicht zu strenge abgesperrt sein; man muss vielmehr durchaus auf Erhaltung einer gewissen Socialität sehen, in welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und Alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Ent- fremdung gegen die Welt bewahrt. Hiezu dienen gemeinsame Vergnügungen, Gesellschaften, Spaziergänge etc., und in dem Masse, als der Kranke wieder fähiger dazu wird, auch eine zunehmende Berührung mit Gesunden. Dass man sich durchaus bei dem mög- lichst humanen, liberalen Systeme der Krankenbehandlung besser be- findet, als bei einem sehr strengen, ist schon oben berührt; es darf daher die Beschränkung des Kranken nicht weiter gehen, als sein Zustand es erfordert; jeder finstere, ascetische, ebenso wieder jeder casernenmässige Geist ist zu vermeiden, und es soll der Ernst der Zwecke durch heitere, sinnige Formen nicht nur verdeckt, sondern gerade zu rechtem Eingang gebracht werden. -- §. 193. Der Aufnahme der Kranken in die öffentlichen Anstalten muss Geistiges Leben in der Anstalt. muss in den Irrenanstalten ein etwas straffer, angezogener Geist,nicht das Laisser-aller der falschen Gemüthlichkeit herrschen; es muss auf pünktliche Zeiteintheilung, strengste Ordnung und treue Pflicht- erfüllung genau gesehen werden. Dem Eintretenden, Gesunden oder Kranken, muss der wohlthuende Eindruck entgegen kommen, dass hier die Vernunft, nicht die Unvernunft herrsche; ein Character von Frieden und Ruhe muss durch das Ganze gehen, und die consequente Energie in allem Heilsamen muss in geräuschlosen, milden Formen auftreten, wie die einschliessende Ringmauer von Innen dem Kranken durch freundliches Gebüsch zugedeckt wird. — Der Umgang unter den Kranken selbst muss nicht zu strenge abgesperrt sein; man muss vielmehr durchaus auf Erhaltung einer gewissen Socialität sehen, in welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und Alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Ent- fremdung gegen die Welt bewahrt. Hiezu dienen gemeinsame Vergnügungen, Gesellschaften, Spaziergänge etc., und in dem Masse, als der Kranke wieder fähiger dazu wird, auch eine zunehmende Berührung mit Gesunden. Dass man sich durchaus bei dem mög- lichst humanen, liberalen Systeme der Krankenbehandlung besser be- findet, als bei einem sehr strengen, ist schon oben berührt; es darf daher die Beschränkung des Kranken nicht weiter gehen, als sein Zustand es erfordert; jeder finstere, ascetische, ebenso wieder jeder casernenmässige Geist ist zu vermeiden, und es soll der Ernst der Zwecke durch heitere, sinnige Formen nicht nur verdeckt, sondern gerade zu rechtem Eingang gebracht werden. — §. 193. Der Aufnahme der Kranken in die öffentlichen Anstalten muss <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0408" n="394"/><fw place="top" type="header">Geistiges Leben in der Anstalt.</fw><lb/> muss in den Irrenanstalten ein etwas straffer, angezogener Geist,<lb/> nicht das Laisser-aller der falschen Gemüthlichkeit herrschen; es muss<lb/> auf pünktliche Zeiteintheilung, strengste Ordnung und treue Pflicht-<lb/> erfüllung genau gesehen werden. Dem Eintretenden, Gesunden oder<lb/> Kranken, muss der wohlthuende Eindruck entgegen kommen, dass<lb/> hier die Vernunft, nicht die Unvernunft herrsche; ein Character von<lb/> Frieden und Ruhe muss durch das Ganze gehen, und die consequente<lb/> Energie in allem Heilsamen muss in geräuschlosen, milden Formen<lb/> auftreten, wie die einschliessende Ringmauer von Innen dem Kranken<lb/> durch freundliches Gebüsch zugedeckt wird. — Der Umgang unter den<lb/> Kranken selbst muss nicht zu strenge abgesperrt sein; man muss<lb/> vielmehr durchaus auf Erhaltung einer gewissen Socialität sehen, in<lb/> welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und<lb/> Alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Ent-<lb/> fremdung gegen die Welt bewahrt. Hiezu dienen gemeinsame<lb/> Vergnügungen, Gesellschaften, Spaziergänge etc., und in dem Masse,<lb/> als der Kranke wieder fähiger dazu wird, auch eine zunehmende<lb/> Berührung mit Gesunden. Dass man sich durchaus bei dem mög-<lb/> lichst humanen, liberalen Systeme der Krankenbehandlung besser be-<lb/> findet, als bei einem sehr strengen, ist schon oben berührt; es darf<lb/> daher die Beschränkung des Kranken nicht weiter gehen, als sein<lb/> Zustand es erfordert; jeder finstere, ascetische, ebenso wieder jeder<lb/> casernenmässige Geist ist zu vermeiden, und es soll der Ernst der<lb/> Zwecke durch heitere, sinnige Formen nicht nur verdeckt, sondern<lb/> gerade zu rechtem Eingang gebracht werden. —</p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 193.</head><lb/> <p>Der <hi rendition="#g">Aufnahme</hi> der Kranken in die öffentlichen Anstalten muss<lb/> ein genauer ärztlicher Bericht über seinen Krankheitszustand und über<lb/> dessen Entwicklung vorausgehen, der in vielen Fällen noch durch<lb/> Mittheilungen der Angehörigen vervollständigt werden muss; in diesen<lb/> muss die unumschränkteste Offenheit herrschen, da die Kenntniss<lb/> aller persönlichen Verhältnisse und wichtigen Erlebnisse für den Arzt<lb/> von höchster Wichtigkeit ist. Der ärztliche Bericht muss alle Fragen,<lb/> welche irgend einen Bezug auf die Entstehung des Irreseins haben<lb/> können, berühren, namentlich alle ätiologischen, Erblichkeit, leibliche<lb/> und geistige Dispositionen, vorausgegangene Krankheiten, namentlich<lb/> solche des Nervensystems, er muss die Symptome des allmähligeren<lb/> oder schnelleren Ausbruchs und den gegenwärtigen Complex krank-<lb/> hafter Erscheinungen genau schildern, das bisher eingeschlagene Ver-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [394/0408]
Geistiges Leben in der Anstalt.
muss in den Irrenanstalten ein etwas straffer, angezogener Geist,
nicht das Laisser-aller der falschen Gemüthlichkeit herrschen; es muss
auf pünktliche Zeiteintheilung, strengste Ordnung und treue Pflicht-
erfüllung genau gesehen werden. Dem Eintretenden, Gesunden oder
Kranken, muss der wohlthuende Eindruck entgegen kommen, dass
hier die Vernunft, nicht die Unvernunft herrsche; ein Character von
Frieden und Ruhe muss durch das Ganze gehen, und die consequente
Energie in allem Heilsamen muss in geräuschlosen, milden Formen
auftreten, wie die einschliessende Ringmauer von Innen dem Kranken
durch freundliches Gebüsch zugedeckt wird. — Der Umgang unter den
Kranken selbst muss nicht zu strenge abgesperrt sein; man muss
vielmehr durchaus auf Erhaltung einer gewissen Socialität sehen, in
welcher die Formen des gesunden Umgangs beobachtet werden, und
Alles muss ergriffen werden, was den Kranken vor weiterer Ent-
fremdung gegen die Welt bewahrt. Hiezu dienen gemeinsame
Vergnügungen, Gesellschaften, Spaziergänge etc., und in dem Masse,
als der Kranke wieder fähiger dazu wird, auch eine zunehmende
Berührung mit Gesunden. Dass man sich durchaus bei dem mög-
lichst humanen, liberalen Systeme der Krankenbehandlung besser be-
findet, als bei einem sehr strengen, ist schon oben berührt; es darf
daher die Beschränkung des Kranken nicht weiter gehen, als sein
Zustand es erfordert; jeder finstere, ascetische, ebenso wieder jeder
casernenmässige Geist ist zu vermeiden, und es soll der Ernst der
Zwecke durch heitere, sinnige Formen nicht nur verdeckt, sondern
gerade zu rechtem Eingang gebracht werden. —
§. 193.
Der Aufnahme der Kranken in die öffentlichen Anstalten muss
ein genauer ärztlicher Bericht über seinen Krankheitszustand und über
dessen Entwicklung vorausgehen, der in vielen Fällen noch durch
Mittheilungen der Angehörigen vervollständigt werden muss; in diesen
muss die unumschränkteste Offenheit herrschen, da die Kenntniss
aller persönlichen Verhältnisse und wichtigen Erlebnisse für den Arzt
von höchster Wichtigkeit ist. Der ärztliche Bericht muss alle Fragen,
welche irgend einen Bezug auf die Entstehung des Irreseins haben
können, berühren, namentlich alle ätiologischen, Erblichkeit, leibliche
und geistige Dispositionen, vorausgegangene Krankheiten, namentlich
solche des Nervensystems, er muss die Symptome des allmähligeren
oder schnelleren Ausbruchs und den gegenwärtigen Complex krank-
hafter Erscheinungen genau schildern, das bisher eingeschlagene Ver-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |