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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Behandlung der Anfangsstadien.
des Irreseins, und namentlich zuerst der Periode der beginnen-
den Erkrankung
betrifft, so ist hier vor Allem noch einmal an
die Nothwendigkeit eines möglichst frühen Einschreitens zu erinnern.
Zuerst freilich ist durch eine genaue Beobachtung des Kranken die
Diagnose sicher zu stellen. Bei noch sehr mässigen Symptomen ist
im ersten Anfang begreiflich oft nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
möglich, welche übrigens durch vorhandene erbliche Anlage, durch
gewisse vorausgegangene Ursachen u. dgl. wesentlich unterstützt wer-
den kann. Abgesehen von groben Missgriffen, z. B. der schon vor-
gekommenen Verwechslung eines typhösen Fiebers mit selbstständigem
Irresein, gebietet es kluge Sorgfalt für den Kranken, ihn bei dring-
lichem Verdachte auch gleich als Irre-Werdenden zu behandeln, da
ihm hieraus keinerlei Nachtheil, wohl aber unter allen Umständen
ein wesentlicher Vortheil entspringen kann. Denn in diesem Zeit-
raume besteht das Hauptverfahren in einer vollständigen Beseitigung
aller Krankheitsursachen und in genau individualisirten und sorgsam
durchzuführenden diätetischen Massregeln.

Hier hat die somatische Therapie ihre ausgedehnteste Anwen-
dung; von psychischer Seite hüte man sich bei leidenschaftlicher
Beschäftigung des Kranken mit widrigen Vorfällen und bei überhand-
nehmender Verstimmung vor allem tiefer eingehenden Raisonnement
darüber, vor allen dringlichen Ermahnungen, religiösen Bearbeitungen
u. dergl.; man versuche dagegen, seinen Schmerz durch Ablenkung
auf Anderes, sei es noch auf gesunde Thätigkeit, auf den Kreis ge-
wohnter Pflichten, oder auf milde erheiternde äussere Eindrücke zu
mässigen und seine sinkende Hoffnung durch mässigen, wohlwollen-
den Zuspruch zu stärken. Man muss dem Kranken weder die Zwei-
fel, die man über seine geistige Gesundheit hegt, noch eine directe
Beaufsichtigung zeigen, auch nicht neugierig nach den Gründen sei-
ner Veränderung in ihn dringen, weil er sonst misstrauisch und ge-
neigt zur Verstellung wird; er soll auch wenig allein bleiben, doch
ist es zuweilen gut, ihn auch allein und unbemerkt zu beobachten,
wo er sich oft in Selbstgespräch und Geberde frei gehen lässt. Wo
immer das Allgemeinbefinden es erlaubt, soll er nicht ganz müssig
sein, sondern einige vorsichtig gewählte Beschäftigung haben; nur ist
jede geistige Anstrengung auf's Strengste zu vermeiden und demge-
mäss ist ein schleuniges Aufgeben des gewohnten Geschäfts oft die
erste Bedingung der Therapie.

In vielen Fällen aber bedarf man einer durchgreifenden Umänderung
aller Aussenverhältnisse; Ortsveränderung, Reisen, namentlich Fuss-

Behandlung der Anfangsstadien.
des Irreseins, und namentlich zuerst der Periode der beginnen-
den Erkrankung
betrifft, so ist hier vor Allem noch einmal an
die Nothwendigkeit eines möglichst frühen Einschreitens zu erinnern.
Zuerst freilich ist durch eine genaue Beobachtung des Kranken die
Diagnose sicher zu stellen. Bei noch sehr mässigen Symptomen ist
im ersten Anfang begreiflich oft nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
möglich, welche übrigens durch vorhandene erbliche Anlage, durch
gewisse vorausgegangene Ursachen u. dgl. wesentlich unterstützt wer-
den kann. Abgesehen von groben Missgriffen, z. B. der schon vor-
gekommenen Verwechslung eines typhösen Fiebers mit selbstständigem
Irresein, gebietet es kluge Sorgfalt für den Kranken, ihn bei dring-
lichem Verdachte auch gleich als Irre-Werdenden zu behandeln, da
ihm hieraus keinerlei Nachtheil, wohl aber unter allen Umständen
ein wesentlicher Vortheil entspringen kann. Denn in diesem Zeit-
raume besteht das Hauptverfahren in einer vollständigen Beseitigung
aller Krankheitsursachen und in genau individualisirten und sorgsam
durchzuführenden diätetischen Massregeln.

Hier hat die somatische Therapie ihre ausgedehnteste Anwen-
dung; von psychischer Seite hüte man sich bei leidenschaftlicher
Beschäftigung des Kranken mit widrigen Vorfällen und bei überhand-
nehmender Verstimmung vor allem tiefer eingehenden Raisonnement
darüber, vor allen dringlichen Ermahnungen, religiösen Bearbeitungen
u. dergl.; man versuche dagegen, seinen Schmerz durch Ablenkung
auf Anderes, sei es noch auf gesunde Thätigkeit, auf den Kreis ge-
wohnter Pflichten, oder auf milde erheiternde äussere Eindrücke zu
mässigen und seine sinkende Hoffnung durch mässigen, wohlwollen-
den Zuspruch zu stärken. Man muss dem Kranken weder die Zwei-
fel, die man über seine geistige Gesundheit hegt, noch eine directe
Beaufsichtigung zeigen, auch nicht neugierig nach den Gründen sei-
ner Veränderung in ihn dringen, weil er sonst misstrauisch und ge-
neigt zur Verstellung wird; er soll auch wenig allein bleiben, doch
ist es zuweilen gut, ihn auch allein und unbemerkt zu beobachten,
wo er sich oft in Selbstgespräch und Geberde frei gehen lässt. Wo
immer das Allgemeinbefinden es erlaubt, soll er nicht ganz müssig
sein, sondern einige vorsichtig gewählte Beschäftigung haben; nur ist
jede geistige Anstrengung auf’s Strengste zu vermeiden und demge-
mäss ist ein schleuniges Aufgeben des gewohnten Geschäfts oft die
erste Bedingung der Therapie.

In vielen Fällen aber bedarf man einer durchgreifenden Umänderung
aller Aussenverhältnisse; Ortsveränderung, Reisen, namentlich Fuss-

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[375/0389] Behandlung der Anfangsstadien. des Irreseins, und namentlich zuerst der Periode der beginnen- den Erkrankung betrifft, so ist hier vor Allem noch einmal an die Nothwendigkeit eines möglichst frühen Einschreitens zu erinnern. Zuerst freilich ist durch eine genaue Beobachtung des Kranken die Diagnose sicher zu stellen. Bei noch sehr mässigen Symptomen ist im ersten Anfang begreiflich oft nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose möglich, welche übrigens durch vorhandene erbliche Anlage, durch gewisse vorausgegangene Ursachen u. dgl. wesentlich unterstützt wer- den kann. Abgesehen von groben Missgriffen, z. B. der schon vor- gekommenen Verwechslung eines typhösen Fiebers mit selbstständigem Irresein, gebietet es kluge Sorgfalt für den Kranken, ihn bei dring- lichem Verdachte auch gleich als Irre-Werdenden zu behandeln, da ihm hieraus keinerlei Nachtheil, wohl aber unter allen Umständen ein wesentlicher Vortheil entspringen kann. Denn in diesem Zeit- raume besteht das Hauptverfahren in einer vollständigen Beseitigung aller Krankheitsursachen und in genau individualisirten und sorgsam durchzuführenden diätetischen Massregeln. Hier hat die somatische Therapie ihre ausgedehnteste Anwen- dung; von psychischer Seite hüte man sich bei leidenschaftlicher Beschäftigung des Kranken mit widrigen Vorfällen und bei überhand- nehmender Verstimmung vor allem tiefer eingehenden Raisonnement darüber, vor allen dringlichen Ermahnungen, religiösen Bearbeitungen u. dergl.; man versuche dagegen, seinen Schmerz durch Ablenkung auf Anderes, sei es noch auf gesunde Thätigkeit, auf den Kreis ge- wohnter Pflichten, oder auf milde erheiternde äussere Eindrücke zu mässigen und seine sinkende Hoffnung durch mässigen, wohlwollen- den Zuspruch zu stärken. Man muss dem Kranken weder die Zwei- fel, die man über seine geistige Gesundheit hegt, noch eine directe Beaufsichtigung zeigen, auch nicht neugierig nach den Gründen sei- ner Veränderung in ihn dringen, weil er sonst misstrauisch und ge- neigt zur Verstellung wird; er soll auch wenig allein bleiben, doch ist es zuweilen gut, ihn auch allein und unbemerkt zu beobachten, wo er sich oft in Selbstgespräch und Geberde frei gehen lässt. Wo immer das Allgemeinbefinden es erlaubt, soll er nicht ganz müssig sein, sondern einige vorsichtig gewählte Beschäftigung haben; nur ist jede geistige Anstrengung auf’s Strengste zu vermeiden und demge- mäss ist ein schleuniges Aufgeben des gewohnten Geschäfts oft die erste Bedingung der Therapie. In vielen Fällen aber bedarf man einer durchgreifenden Umänderung aller Aussenverhältnisse; Ortsveränderung, Reisen, namentlich Fuss-

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/389>, abgerufen am 23.11.2024.