Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Die negativen Leichen-Befunde.
gibt, so können bei der Rückenmarksentzündung die Krämpfe, Con-
tracturen etc. nicht die unmittelbar resultirende Erscheinung dieser
Entzündung sein; sie müssen vielmehr eine andere, noch unbekannte
Ursache haben! -- So auffallende Missverständnisse bedürfen keiner
weiteren Widerlegung.

Die glaubwürdigen Sectionsberichte nun, in welchen eine ganz
normale Beschaffenheit des Gehirns angegeben ist, gehören ihrer
Mehrzahl nach Fällen von nicht complicirtem frischerem Irresein, in
den Formen der Schwermuth und der Manie an, während im Durch-
schnitt die anatomischen Alterationen um so häufiger werden, je
länger die Geisteskrankheit gedauert hat, je mehr sie Symptome eines
psychischen Schwächezustandes, namentlich eines tieferen Blödsinns
darbot, je mehr sie endlich mit Paralyse complicirt war. Doch lie-
gen einerseits Fälle bedeutender acut entstandener anatomischer Ver-
änderungen für die frischesten Fälle primären Irreseins (z. B. die
Tobsucht der acuten Meningitis) vor, andererseits wieder immerhin
noch nicht wenige Sectionsberichte von Abwesenheit aller anatomi-
schen Störung, welche chronischen Fällen von Verrücktheit und
ziemlich weit gediehenem Blödsinn entsprechen; ja sogar von der
schwersten Affection, welche die Psychiatrie kennt, dem paralytischen
Blödsinn, bei dem auch durchschnittlich weit die meisten und con-
stantesten Läsionen gefunden werden, sind einzelne Fälle bekannt
geworden, wo nichts Anomales mit den gewöhnlichen Hülfsmitteln
zu entdecken war (Lelut, annales med.-psychol. 1843. I. p. 179, und
Rech, bei Lelut, Inductions sur la valeur etc. Par. 1836. p. 98).
Im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft muss man die letzteren
Fälle entweder als seltene Einzelbeobachtungen, wie in manchen andern
Gebieten der Pathologie, vorläufig ganz ausserhalb des Bereichs theore-
tischer Verwendung lassen, oder man muss sie für Beweise annehmen,
dass auch die tiefste Schwäche der psychischen Processe und der
motorischen Actionen ohne Texturveränderung des Organs eintreten
könne -- wofür denn auch das Rückenmark zahlreiche Analogieen
liefert --; diese Fälle sind es aber vor allem, für welche von einer
zukünftigen noch genaueren Untersuchung sehr wahrscheinlich wei-
tere Aufschlüsse zu erwarten sind.

Als Beispiele der grossen Differenzen unter den Beobachtern in Bezug auf
die Zahl kranker und gesunder Gehirne bei den Irren mögen folgende Zahlen
angeführt werden. Der berühmte Pinel fand unter 261 Sectionen nur 68, Es-
quirol
unter 277 nur 77mal Veränderungen des Gehirns (Sc. Pinel, recherches

Die negativen Leichen-Befunde.
gibt, so können bei der Rückenmarksentzündung die Krämpfe, Con-
tracturen etc. nicht die unmittelbar resultirende Erscheinung dieser
Entzündung sein; sie müssen vielmehr eine andere, noch unbekannte
Ursache haben! — So auffallende Missverständnisse bedürfen keiner
weiteren Widerlegung.

Die glaubwürdigen Sectionsberichte nun, in welchen eine ganz
normale Beschaffenheit des Gehirns angegeben ist, gehören ihrer
Mehrzahl nach Fällen von nicht complicirtem frischerem Irresein, in
den Formen der Schwermuth und der Manie an, während im Durch-
schnitt die anatomischen Alterationen um so häufiger werden, je
länger die Geisteskrankheit gedauert hat, je mehr sie Symptome eines
psychischen Schwächezustandes, namentlich eines tieferen Blödsinns
darbot, je mehr sie endlich mit Paralyse complicirt war. Doch lie-
gen einerseits Fälle bedeutender acut entstandener anatomischer Ver-
änderungen für die frischesten Fälle primären Irreseins (z. B. die
Tobsucht der acuten Meningitis) vor, andererseits wieder immerhin
noch nicht wenige Sectionsberichte von Abwesenheit aller anatomi-
schen Störung, welche chronischen Fällen von Verrücktheit und
ziemlich weit gediehenem Blödsinn entsprechen; ja sogar von der
schwersten Affection, welche die Psychiatrie kennt, dem paralytischen
Blödsinn, bei dem auch durchschnittlich weit die meisten und con-
stantesten Läsionen gefunden werden, sind einzelne Fälle bekannt
geworden, wo nichts Anomales mit den gewöhnlichen Hülfsmitteln
zu entdecken war (Lélut, annales med.-psychol. 1843. I. p. 179, und
Rech, bei Lélut, Inductions sur la valeur etc. Par. 1836. p. 98).
Im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft muss man die letzteren
Fälle entweder als seltene Einzelbeobachtungen, wie in manchen andern
Gebieten der Pathologie, vorläufig ganz ausserhalb des Bereichs theore-
tischer Verwendung lassen, oder man muss sie für Beweise annehmen,
dass auch die tiefste Schwäche der psychischen Processe und der
motorischen Actionen ohne Texturveränderung des Organs eintreten
könne — wofür denn auch das Rückenmark zahlreiche Analogieen
liefert —; diese Fälle sind es aber vor allem, für welche von einer
zukünftigen noch genaueren Untersuchung sehr wahrscheinlich wei-
tere Aufschlüsse zu erwarten sind.

Als Beispiele der grossen Differenzen unter den Beobachtern in Bezug auf
die Zahl kranker und gesunder Gehirne bei den Irren mögen folgende Zahlen
angeführt werden. Der berühmte Pinel fand unter 261 Sectionen nur 68, Es-
quirol
unter 277 nur 77mal Veränderungen des Gehirns (Sc. Pinel, recherches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0308" n="294"/><fw place="top" type="header">Die negativen Leichen-Befunde.</fw><lb/>
gibt, so können bei der Rückenmarksentzündung die Krämpfe, Con-<lb/>
tracturen etc. nicht die unmittelbar resultirende Erscheinung dieser<lb/>
Entzündung sein; sie müssen vielmehr eine andere, noch unbekannte<lb/>
Ursache haben! &#x2014; So auffallende Missverständnisse bedürfen keiner<lb/>
weiteren Widerlegung.</p><lb/>
            <p>Die glaubwürdigen Sectionsberichte nun, in welchen eine ganz<lb/>
normale Beschaffenheit des Gehirns angegeben ist, gehören ihrer<lb/>
Mehrzahl nach Fällen von nicht complicirtem frischerem Irresein, in<lb/>
den Formen der Schwermuth und der Manie an, während im Durch-<lb/>
schnitt die anatomischen Alterationen um so häufiger werden, je<lb/>
länger die Geisteskrankheit gedauert hat, je mehr sie Symptome eines<lb/>
psychischen Schwächezustandes, namentlich eines tieferen Blödsinns<lb/>
darbot, je mehr sie endlich mit Paralyse complicirt war. Doch lie-<lb/>
gen einerseits Fälle bedeutender acut entstandener anatomischer Ver-<lb/>
änderungen für die frischesten Fälle primären Irreseins (z. B. die<lb/>
Tobsucht der acuten Meningitis) vor, andererseits wieder immerhin<lb/>
noch nicht wenige Sectionsberichte von Abwesenheit aller anatomi-<lb/>
schen Störung, welche chronischen Fällen von Verrücktheit und<lb/>
ziemlich weit gediehenem Blödsinn entsprechen; ja sogar von der<lb/>
schwersten Affection, welche die Psychiatrie kennt, dem paralytischen<lb/>
Blödsinn, bei dem auch durchschnittlich weit die meisten und con-<lb/>
stantesten Läsionen gefunden werden, sind einzelne Fälle bekannt<lb/>
geworden, wo nichts Anomales mit den gewöhnlichen Hülfsmitteln<lb/>
zu entdecken war (Lélut, annales med.-psychol. 1843. I. p. 179, und<lb/>
Rech, bei Lélut, Inductions sur la valeur etc. Par. 1836. p. 98).<lb/>
Im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft muss man die letzteren<lb/>
Fälle entweder als seltene Einzelbeobachtungen, wie in manchen andern<lb/>
Gebieten der Pathologie, vorläufig ganz ausserhalb des Bereichs theore-<lb/>
tischer Verwendung lassen, oder man muss sie für Beweise annehmen,<lb/>
dass auch die tiefste Schwäche der psychischen Processe und der<lb/>
motorischen Actionen ohne Texturveränderung des Organs eintreten<lb/>
könne &#x2014; wofür denn auch das Rückenmark zahlreiche Analogieen<lb/>
liefert &#x2014;; <hi rendition="#g">diese</hi> Fälle sind es aber vor allem, für welche von einer<lb/>
zukünftigen noch genaueren Untersuchung sehr wahrscheinlich wei-<lb/>
tere Aufschlüsse zu erwarten sind.</p><lb/>
            <p>Als Beispiele der grossen Differenzen unter den Beobachtern in Bezug auf<lb/>
die Zahl kranker und gesunder Gehirne bei den Irren mögen folgende Zahlen<lb/>
angeführt werden. Der berühmte <hi rendition="#g">Pinel</hi> fand unter 261 Sectionen nur 68, <hi rendition="#g">Es-<lb/>
quirol</hi> unter 277 nur 77mal Veränderungen des Gehirns (Sc. Pinel, recherches<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0308] Die negativen Leichen-Befunde. gibt, so können bei der Rückenmarksentzündung die Krämpfe, Con- tracturen etc. nicht die unmittelbar resultirende Erscheinung dieser Entzündung sein; sie müssen vielmehr eine andere, noch unbekannte Ursache haben! — So auffallende Missverständnisse bedürfen keiner weiteren Widerlegung. Die glaubwürdigen Sectionsberichte nun, in welchen eine ganz normale Beschaffenheit des Gehirns angegeben ist, gehören ihrer Mehrzahl nach Fällen von nicht complicirtem frischerem Irresein, in den Formen der Schwermuth und der Manie an, während im Durch- schnitt die anatomischen Alterationen um so häufiger werden, je länger die Geisteskrankheit gedauert hat, je mehr sie Symptome eines psychischen Schwächezustandes, namentlich eines tieferen Blödsinns darbot, je mehr sie endlich mit Paralyse complicirt war. Doch lie- gen einerseits Fälle bedeutender acut entstandener anatomischer Ver- änderungen für die frischesten Fälle primären Irreseins (z. B. die Tobsucht der acuten Meningitis) vor, andererseits wieder immerhin noch nicht wenige Sectionsberichte von Abwesenheit aller anatomi- schen Störung, welche chronischen Fällen von Verrücktheit und ziemlich weit gediehenem Blödsinn entsprechen; ja sogar von der schwersten Affection, welche die Psychiatrie kennt, dem paralytischen Blödsinn, bei dem auch durchschnittlich weit die meisten und con- stantesten Läsionen gefunden werden, sind einzelne Fälle bekannt geworden, wo nichts Anomales mit den gewöhnlichen Hülfsmitteln zu entdecken war (Lélut, annales med.-psychol. 1843. I. p. 179, und Rech, bei Lélut, Inductions sur la valeur etc. Par. 1836. p. 98). Im gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft muss man die letzteren Fälle entweder als seltene Einzelbeobachtungen, wie in manchen andern Gebieten der Pathologie, vorläufig ganz ausserhalb des Bereichs theore- tischer Verwendung lassen, oder man muss sie für Beweise annehmen, dass auch die tiefste Schwäche der psychischen Processe und der motorischen Actionen ohne Texturveränderung des Organs eintreten könne — wofür denn auch das Rückenmark zahlreiche Analogieen liefert —; diese Fälle sind es aber vor allem, für welche von einer zukünftigen noch genaueren Untersuchung sehr wahrscheinlich wei- tere Aufschlüsse zu erwarten sind. Als Beispiele der grossen Differenzen unter den Beobachtern in Bezug auf die Zahl kranker und gesunder Gehirne bei den Irren mögen folgende Zahlen angeführt werden. Der berühmte Pinel fand unter 261 Sectionen nur 68, Es- quirol unter 277 nur 77mal Veränderungen des Gehirns (Sc. Pinel, recherches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/308
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/308>, abgerufen am 09.11.2024.