brochen; häufig sieht man auch, ohne bemerkbare Ursache, von einem Tag zum andern die Krankheit sich bedeutend verschlimmern.
Einzelne Beispiele von Genesung oder wenigstens längerer be- deutender Besserung -- nie ohne dringende Gefahr der Recidive -- sind bekannt geworden; Esquirol hat 3, Calmeil 2, Bayle 6 Fälle der Art beobachtet; die ungeheure Mehrzahl der Kranken stirbt in der angegebenen Zeit. Dagegen kommen vorübergehende Besserungen, welche zu fast vollständigen Intermissionen werden können, aber leider gewöhnlich nicht lange dauern, weniger selten vor.
Aus den vielfachen sorgfältigen und interessanten Untersuchun- gen über den Zustand des Gehirns bei der allgemeinen Paralyse (S. das Capitel der patholog. Anatomie) müssen wir den Schluss ziehen, dass ihr durchaus nicht immer eine und dieselbe Alteration zu Grunde liegt. Auch hier, wie bei den übrigen Krankheiten des Nervensy- stems, erzeugen sehr verschiedene Texturveränderungen dieselben grösseren Symptomencomplexe. Nur die gewöhnliche Apoplexie -- Gehirnzerreissung durch ein Blutextravasat -- ist niemals die Ur- sache dieser Form von Lähmung; dagegen scheinen während der Anfälle von Kopfcongestion und Bewusstlosigkeit sehr häufig stär- kere oder mässigere Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea zu erfolgen, welche sich später entweder encystiren oder, bei geringerer Blutmenge, ganz dünne, lockere, leicht zu übersehende Pseudomem- branen, wie Anflüge auf der Innenseite der dura mater über der Con- vexität der Hemisphären darstellen.
Ein Punkt in der Geschichte der Paralyse, wie wir sie aus eigenen Beobachtungen kennen, scheint uns bis jetzt von den Bearbeitern derselben zu wenig beachtet, nemlich die im ersten Anfang weit mehr krampfhafte als lähmungsartige Natur der Affection. In mehren Fällen haben wir uns deutlich davon überzeugt, wie die ersten Stö- rungen des Sprechens nicht auf einer verminderten Beweglichkeit, sondern einem krampfhaften Herumwerfen der Zunge beruhten und wie ebenso das erschwerte Gehen anfangs mit Steifheit der Beine, Rigidität und vorübergehendem Zittern der Muskeln verbunden war. So häufig stimmt in diesem Zeitraume der unordentliche, convulsivische Character des Strebens und Wollens mit dieser Natur der motori- schen Affection überein, während später allerdings beide, nebst der ganzen übrigen psychischen Thätigkeit, in totaler Paralyse unter- gehen.
Die allgemeine Paralyse der Irren.
brochen; häufig sieht man auch, ohne bemerkbare Ursache, von einem Tag zum andern die Krankheit sich bedeutend verschlimmern.
Einzelne Beispiele von Genesung oder wenigstens längerer be- deutender Besserung — nie ohne dringende Gefahr der Recidive — sind bekannt geworden; Esquirol hat 3, Calmeil 2, Bayle 6 Fälle der Art beobachtet; die ungeheure Mehrzahl der Kranken stirbt in der angegebenen Zeit. Dagegen kommen vorübergehende Besserungen, welche zu fast vollständigen Intermissionen werden können, aber leider gewöhnlich nicht lange dauern, weniger selten vor.
Aus den vielfachen sorgfältigen und interessanten Untersuchun- gen über den Zustand des Gehirns bei der allgemeinen Paralyse (S. das Capitel der patholog. Anatomie) müssen wir den Schluss ziehen, dass ihr durchaus nicht immer eine und dieselbe Alteration zu Grunde liegt. Auch hier, wie bei den übrigen Krankheiten des Nervensy- stems, erzeugen sehr verschiedene Texturveränderungen dieselben grösseren Symptomencomplexe. Nur die gewöhnliche Apoplexie — Gehirnzerreissung durch ein Blutextravasat — ist niemals die Ur- sache dieser Form von Lähmung; dagegen scheinen während der Anfälle von Kopfcongestion und Bewusstlosigkeit sehr häufig stär- kere oder mässigere Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea zu erfolgen, welche sich später entweder encystiren oder, bei geringerer Blutmenge, ganz dünne, lockere, leicht zu übersehende Pseudomem- branen, wie Anflüge auf der Innenseite der dura mater über der Con- vexität der Hemisphären darstellen.
Ein Punkt in der Geschichte der Paralyse, wie wir sie aus eigenen Beobachtungen kennen, scheint uns bis jetzt von den Bearbeitern derselben zu wenig beachtet, nemlich die im ersten Anfang weit mehr krampfhafte als lähmungsartige Natur der Affection. In mehren Fällen haben wir uns deutlich davon überzeugt, wie die ersten Stö- rungen des Sprechens nicht auf einer verminderten Beweglichkeit, sondern einem krampfhaften Herumwerfen der Zunge beruhten und wie ebenso das erschwerte Gehen anfangs mit Steifheit der Beine, Rigidität und vorübergehendem Zittern der Muskeln verbunden war. So häufig stimmt in diesem Zeitraume der unordentliche, convulsivische Character des Strebens und Wollens mit dieser Natur der motori- schen Affection überein, während später allerdings beide, nebst der ganzen übrigen psychischen Thätigkeit, in totaler Paralyse unter- gehen.
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Die allgemeine Paralyse der Irren.
brochen; häufig sieht man auch, ohne bemerkbare Ursache, von einem
Tag zum andern die Krankheit sich bedeutend verschlimmern.
Einzelne Beispiele von Genesung oder wenigstens längerer be-
deutender Besserung — nie ohne dringende Gefahr der Recidive —
sind bekannt geworden; Esquirol hat 3, Calmeil 2, Bayle 6 Fälle der
Art beobachtet; die ungeheure Mehrzahl der Kranken stirbt in der
angegebenen Zeit. Dagegen kommen vorübergehende Besserungen,
welche zu fast vollständigen Intermissionen werden können, aber
leider gewöhnlich nicht lange dauern, weniger selten vor.
Aus den vielfachen sorgfältigen und interessanten Untersuchun-
gen über den Zustand des Gehirns bei der allgemeinen Paralyse (S.
das Capitel der patholog. Anatomie) müssen wir den Schluss ziehen,
dass ihr durchaus nicht immer eine und dieselbe Alteration zu Grunde
liegt. Auch hier, wie bei den übrigen Krankheiten des Nervensy-
stems, erzeugen sehr verschiedene Texturveränderungen dieselben
grösseren Symptomencomplexe. Nur die gewöhnliche Apoplexie —
Gehirnzerreissung durch ein Blutextravasat — ist niemals die Ur-
sache dieser Form von Lähmung; dagegen scheinen während der
Anfälle von Kopfcongestion und Bewusstlosigkeit sehr häufig stär-
kere oder mässigere Blutergüsse in den Sack der Arachnoidea zu
erfolgen, welche sich später entweder encystiren oder, bei geringerer
Blutmenge, ganz dünne, lockere, leicht zu übersehende Pseudomem-
branen, wie Anflüge auf der Innenseite der dura mater über der Con-
vexität der Hemisphären darstellen.
Ein Punkt in der Geschichte der Paralyse, wie wir sie aus
eigenen Beobachtungen kennen, scheint uns bis jetzt von den Bearbeitern
derselben zu wenig beachtet, nemlich die im ersten Anfang weit
mehr krampfhafte als lähmungsartige Natur der Affection. In mehren
Fällen haben wir uns deutlich davon überzeugt, wie die ersten Stö-
rungen des Sprechens nicht auf einer verminderten Beweglichkeit,
sondern einem krampfhaften Herumwerfen der Zunge beruhten und
wie ebenso das erschwerte Gehen anfangs mit Steifheit der Beine,
Rigidität und vorübergehendem Zittern der Muskeln verbunden war.
So häufig stimmt in diesem Zeitraume der unordentliche, convulsivische
Character des Strebens und Wollens mit dieser Natur der motori-
schen Affection überein, während später allerdings beide, nebst
der ganzen übrigen psychischen Thätigkeit, in totaler Paralyse unter-
gehen.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/300>, abgerufen am 27.11.2024.
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