der Gehirnkrankheit selbst, als von gleichzeitig vorhandenen abnormen localen oder Allgemeinleiden, z. B. einer vorhandenen Tuberculose, einem hohen Grade von Anämie, einer hydropischen oder scorbu- tischen Blutbeschaffenheit etc. abhängt, bedarf keiner weiteren Aus- einandersetzung. Nicht selten verfallen die Reconvalescenten von der Tobsucht in einen Zustand tiefer körperlicher und psychischer Er- mattung, welcher sich erst im weiteren Verlaufe von dem Uebergang in Blödsinn mit Sicherheit unterscheiden lässt, oder die Krankheit geht wieder mit einem kurzen Stadium melancholicum zu Ende.
Wenn der Kranke nicht genest, so kann sich mit der grösseren äusseren Beruhigung die Form des Wahnsinns ausbilden oder er ver- fällt in einen chronischen, secundären psychischen Schwächezustand, eine der verschiedenen Formen blödsinniger Abstumpfung mit oder ohne zeitweise Agitation.
Der Tod kann in Folge des Gehirnleidens in der Tobsucht selbst, durch heftige Gehirnhyperämie, seltener durch Extravasat, apoplectisch erfolgen; viel häufiger sterben die Kranken an acuten oder chronischen Erkrankungen anderer Organe, an Pneumonie, Pleuritis, heftigen Darmcatarrhen, Phtisis etc. Unglücksfälle, das Hinausspringen des Kranken aus dem Fenster etc. werden in dieser Form des Irreseins auch nicht selten Ursachen des Todes.
XXVI. Einfache Tobsucht mit geschlechtlicher Aufregung und Stehlsucht. Genesung. Gottfried Demons, 22 Jahre alt, etwas schwäch- lich, in der Kindheit häufig mit Kopfausschlägen behaftet, von eigensinnigem Character und geringer Geistesbildung, dessen Grossmutter, mütterlicher Seite, sieben Jahre lang an Seelenstörung gelitten hatte, wurde im 19ten Jahre von melancholischer Verstimmung befallen, welche nach drei Monaten unter dem Ge- brauche ärztlicher Mittel wieder verschwand. Im 21ten Jahre hatte er kurze Zeit an hartnäckiger Stuhlverhaltung mit Erbrechen gelitten. Im Mai 1811 zeigte er sich eines Tags bei der Erzählung eines Reisenden von den Leiden, welche derselbe erduldet, auffallend wehmüthig ergriffen. Am folgenden Tage klagte er über Unwohlsein und Uebelkeit, wesshalb er ein Brechmittel erhielt und zwei Tage später verfiel er in eine Seelenstörung mit anhaltendem Rasen und sinn- losen Reden. (Grosse Gaben Brechweinstein und Abführmittel.) In den nächsten 14 Tagen traten wiederholt mehrstündige lucida intervalla ein, worauf aber immer wieder neue heftige Anfälle von Raserei folgten. Indessen milderten sich diese allmählig und gegen die Mitte Juni trat ein Zustand ein, in welchem der Kranke bei immer seltener werdenden Tobsuchtanfällen, vom Morgen bis zum Abend un- unterbrochen sinnlos schwatzte, während der Nächte aber eines mehrstündigen ruhigen Schlafes genoss. Der Puls war ruhig, das Gesicht eingefallen, die Ess- lust vermehrt und die Oeffnung träge; mitunter wurden schwache zuckende Be- wegungen an den Gliedmassen wahrgenommen.
Vier Wochen nach dem Eintritte der Seelenstörung wird der Kranke nach
Beispiele
der Gehirnkrankheit selbst, als von gleichzeitig vorhandenen abnormen localen oder Allgemeinleiden, z. B. einer vorhandenen Tuberculose, einem hohen Grade von Anämie, einer hydropischen oder scorbu- tischen Blutbeschaffenheit etc. abhängt, bedarf keiner weiteren Aus- einandersetzung. Nicht selten verfallen die Reconvalescenten von der Tobsucht in einen Zustand tiefer körperlicher und psychischer Er- mattung, welcher sich erst im weiteren Verlaufe von dem Uebergang in Blödsinn mit Sicherheit unterscheiden lässt, oder die Krankheit geht wieder mit einem kurzen Stadium melancholicum zu Ende.
Wenn der Kranke nicht genest, so kann sich mit der grösseren äusseren Beruhigung die Form des Wahnsinns ausbilden oder er ver- fällt in einen chronischen, secundären psychischen Schwächezustand, eine der verschiedenen Formen blödsinniger Abstumpfung mit oder ohne zeitweise Agitation.
Der Tod kann in Folge des Gehirnleidens in der Tobsucht selbst, durch heftige Gehirnhyperämie, seltener durch Extravasat, apoplectisch erfolgen; viel häufiger sterben die Kranken an acuten oder chronischen Erkrankungen anderer Organe, an Pneumonie, Pleuritis, heftigen Darmcatarrhen, Phtisis etc. Unglücksfälle, das Hinausspringen des Kranken aus dem Fenster etc. werden in dieser Form des Irreseins auch nicht selten Ursachen des Todes.
XXVI. Einfache Tobsucht mit geschlechtlicher Aufregung und Stehlsucht. Genesung. Gottfried Demons, 22 Jahre alt, etwas schwäch- lich, in der Kindheit häufig mit Kopfausschlägen behaftet, von eigensinnigem Character und geringer Geistesbildung, dessen Grossmutter, mütterlicher Seite, sieben Jahre lang an Seelenstörung gelitten hatte, wurde im 19ten Jahre von melancholischer Verstimmung befallen, welche nach drei Monaten unter dem Ge- brauche ärztlicher Mittel wieder verschwand. Im 21ten Jahre hatte er kurze Zeit an hartnäckiger Stuhlverhaltung mit Erbrechen gelitten. Im Mai 1811 zeigte er sich eines Tags bei der Erzählung eines Reisenden von den Leiden, welche derselbe erduldet, auffallend wehmüthig ergriffen. Am folgenden Tage klagte er über Unwohlsein und Uebelkeit, wesshalb er ein Brechmittel erhielt und zwei Tage später verfiel er in eine Seelenstörung mit anhaltendem Rasen und sinn- losen Reden. (Grosse Gaben Brechweinstein und Abführmittel.) In den nächsten 14 Tagen traten wiederholt mehrstündige lucida intervalla ein, worauf aber immer wieder neue heftige Anfälle von Raserei folgten. Indessen milderten sich diese allmählig und gegen die Mitte Juni trat ein Zustand ein, in welchem der Kranke bei immer seltener werdenden Tobsuchtanfällen, vom Morgen bis zum Abend un- unterbrochen sinnlos schwatzte, während der Nächte aber eines mehrstündigen ruhigen Schlafes genoss. Der Puls war ruhig, das Gesicht eingefallen, die Ess- lust vermehrt und die Oeffnung träge; mitunter wurden schwache zuckende Be- wegungen an den Gliedmassen wahrgenommen.
Vier Wochen nach dem Eintritte der Seelenstörung wird der Kranke nach
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0242"n="228"/><fwplace="top"type="header">Beispiele</fw><lb/>
der Gehirnkrankheit selbst, als von gleichzeitig vorhandenen abnormen<lb/>
localen oder Allgemeinleiden, z. B. einer vorhandenen Tuberculose,<lb/>
einem hohen Grade von Anämie, einer hydropischen oder scorbu-<lb/>
tischen Blutbeschaffenheit etc. abhängt, bedarf keiner weiteren Aus-<lb/>
einandersetzung. Nicht selten verfallen die Reconvalescenten von der<lb/>
Tobsucht in einen Zustand tiefer körperlicher und psychischer Er-<lb/>
mattung, welcher sich erst im weiteren Verlaufe von dem Uebergang<lb/>
in Blödsinn mit Sicherheit unterscheiden lässt, oder die Krankheit<lb/>
geht wieder mit einem kurzen Stadium melancholicum zu Ende.</p><lb/><p>Wenn der Kranke nicht genest, so kann sich mit der grösseren<lb/>
äusseren Beruhigung die Form des Wahnsinns ausbilden oder er ver-<lb/>
fällt in einen chronischen, secundären psychischen Schwächezustand,<lb/>
eine der verschiedenen Formen blödsinniger Abstumpfung mit oder<lb/>
ohne zeitweise Agitation.</p><lb/><p>Der Tod kann in Folge des Gehirnleidens in der Tobsucht selbst,<lb/>
durch heftige Gehirnhyperämie, seltener durch Extravasat, apoplectisch<lb/>
erfolgen; viel häufiger sterben die Kranken an acuten oder chronischen<lb/>
Erkrankungen anderer Organe, an Pneumonie, Pleuritis, heftigen<lb/>
Darmcatarrhen, Phtisis etc. Unglücksfälle, das Hinausspringen des<lb/>
Kranken aus dem Fenster etc. werden in dieser Form des Irreseins<lb/>
auch nicht selten Ursachen des Todes.</p><lb/><p>XXVI. <hirendition="#g">Einfache Tobsucht mit geschlechtlicher Aufregung und<lb/>
Stehlsucht. Genesung</hi>. Gottfried Demons, 22 Jahre alt, etwas schwäch-<lb/>
lich, in der Kindheit häufig mit Kopfausschlägen behaftet, von eigensinnigem<lb/>
Character und geringer Geistesbildung, dessen Grossmutter, mütterlicher Seite,<lb/>
sieben Jahre lang an Seelenstörung gelitten hatte, wurde im 19ten Jahre von<lb/>
melancholischer Verstimmung befallen, welche nach drei Monaten unter dem Ge-<lb/>
brauche ärztlicher Mittel wieder verschwand. Im 21ten Jahre hatte er kurze Zeit<lb/>
an hartnäckiger Stuhlverhaltung mit Erbrechen gelitten. Im Mai 1811 zeigte er<lb/>
sich eines Tags bei der Erzählung eines Reisenden von den Leiden, welche<lb/>
derselbe erduldet, auffallend wehmüthig ergriffen. Am folgenden Tage klagte er<lb/>
über Unwohlsein und Uebelkeit, wesshalb er ein Brechmittel erhielt und zwei<lb/>
Tage später verfiel er in eine Seelenstörung mit anhaltendem Rasen und sinn-<lb/>
losen Reden. (Grosse Gaben Brechweinstein und Abführmittel.) In den nächsten<lb/>
14 Tagen traten wiederholt mehrstündige lucida intervalla ein, worauf aber immer<lb/>
wieder neue heftige Anfälle von Raserei folgten. Indessen milderten sich diese<lb/>
allmählig und gegen die Mitte Juni trat ein Zustand ein, in welchem der Kranke<lb/>
bei immer seltener werdenden Tobsuchtanfällen, vom Morgen bis zum Abend un-<lb/>
unterbrochen sinnlos schwatzte, während der Nächte aber eines mehrstündigen<lb/>
ruhigen Schlafes genoss. Der Puls war ruhig, das Gesicht eingefallen, die Ess-<lb/>
lust vermehrt und die Oeffnung träge; mitunter wurden schwache zuckende Be-<lb/>
wegungen an den Gliedmassen wahrgenommen.</p><lb/><p>Vier Wochen nach dem Eintritte der Seelenstörung wird der Kranke nach<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[228/0242]
Beispiele
der Gehirnkrankheit selbst, als von gleichzeitig vorhandenen abnormen
localen oder Allgemeinleiden, z. B. einer vorhandenen Tuberculose,
einem hohen Grade von Anämie, einer hydropischen oder scorbu-
tischen Blutbeschaffenheit etc. abhängt, bedarf keiner weiteren Aus-
einandersetzung. Nicht selten verfallen die Reconvalescenten von der
Tobsucht in einen Zustand tiefer körperlicher und psychischer Er-
mattung, welcher sich erst im weiteren Verlaufe von dem Uebergang
in Blödsinn mit Sicherheit unterscheiden lässt, oder die Krankheit
geht wieder mit einem kurzen Stadium melancholicum zu Ende.
Wenn der Kranke nicht genest, so kann sich mit der grösseren
äusseren Beruhigung die Form des Wahnsinns ausbilden oder er ver-
fällt in einen chronischen, secundären psychischen Schwächezustand,
eine der verschiedenen Formen blödsinniger Abstumpfung mit oder
ohne zeitweise Agitation.
Der Tod kann in Folge des Gehirnleidens in der Tobsucht selbst,
durch heftige Gehirnhyperämie, seltener durch Extravasat, apoplectisch
erfolgen; viel häufiger sterben die Kranken an acuten oder chronischen
Erkrankungen anderer Organe, an Pneumonie, Pleuritis, heftigen
Darmcatarrhen, Phtisis etc. Unglücksfälle, das Hinausspringen des
Kranken aus dem Fenster etc. werden in dieser Form des Irreseins
auch nicht selten Ursachen des Todes.
XXVI. Einfache Tobsucht mit geschlechtlicher Aufregung und
Stehlsucht. Genesung. Gottfried Demons, 22 Jahre alt, etwas schwäch-
lich, in der Kindheit häufig mit Kopfausschlägen behaftet, von eigensinnigem
Character und geringer Geistesbildung, dessen Grossmutter, mütterlicher Seite,
sieben Jahre lang an Seelenstörung gelitten hatte, wurde im 19ten Jahre von
melancholischer Verstimmung befallen, welche nach drei Monaten unter dem Ge-
brauche ärztlicher Mittel wieder verschwand. Im 21ten Jahre hatte er kurze Zeit
an hartnäckiger Stuhlverhaltung mit Erbrechen gelitten. Im Mai 1811 zeigte er
sich eines Tags bei der Erzählung eines Reisenden von den Leiden, welche
derselbe erduldet, auffallend wehmüthig ergriffen. Am folgenden Tage klagte er
über Unwohlsein und Uebelkeit, wesshalb er ein Brechmittel erhielt und zwei
Tage später verfiel er in eine Seelenstörung mit anhaltendem Rasen und sinn-
losen Reden. (Grosse Gaben Brechweinstein und Abführmittel.) In den nächsten
14 Tagen traten wiederholt mehrstündige lucida intervalla ein, worauf aber immer
wieder neue heftige Anfälle von Raserei folgten. Indessen milderten sich diese
allmählig und gegen die Mitte Juni trat ein Zustand ein, in welchem der Kranke
bei immer seltener werdenden Tobsuchtanfällen, vom Morgen bis zum Abend un-
unterbrochen sinnlos schwatzte, während der Nächte aber eines mehrstündigen
ruhigen Schlafes genoss. Der Puls war ruhig, das Gesicht eingefallen, die Ess-
lust vermehrt und die Oeffnung träge; mitunter wurden schwache zuckende Be-
wegungen an den Gliedmassen wahrgenommen.
Vier Wochen nach dem Eintritte der Seelenstörung wird der Kranke nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/242>, abgerufen am 28.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.