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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verstandes-Störungen.
Die übermüthige, freche, lustige, ausgelassene, gesteigerte Stimmung,
das Gefühl der Freiheit im Streben, der Fülle im Vorstellen ruft
nach dem Denkgesetze der Causalität Vorstellungen von Grösse, Er-
habenheit, von grossem Reichthum, einer grossen psychischen oder
geistigen Macht etc. hervor, welcher ja unter sonstigen Umständen allein
in dieser Weise das Denken und Streben frei gegeben ist. Die exaltirte
Stimmung der Freiheit und Kraft muss doch einen Grund haben; es muss
ihr etwas im Ich entsprechen, das Ich muss momentan ein Anderes ge-
worden sein, und dieses Anderssein kann nur mit einem Bilde, zu dem
jeder augenblickliche Einfall sich brauchen lässt, ausgedrückt werden.
Der Kranke kann sich nun Napoleon, Messias, Gott, kurz überhaupt etwas
Grosses nennen; er kann behaupten, alle Wissenschaften zu verstehen,
über alle Schätze der Welt zu gebieten etc.; er kann auch ganz
sinnlose Bezeichnungen wählen, er kann z. B. in einem Athem sagen:
Ich bin Napoleon, ich bin dieser Stuhl, ich bin Sie u. dergl.; ent-
weder fühlt er hier eine Unvollständigkeit, auszudrücken, wie es ihm
eigentlich wirklich zu Muthe ist und sucht dieser durch Häufung
von Bildern abzuhelfen, oder er sucht damit dunkel eine grossartige
Allgegenwart, eine Art Sein in Allem geltend zu machen, wie solches
seiner exaltirten Stimmung wohl ansteht.

Aber -- und diess unterscheidet eben diese Wahnvorstellungen
von denen der folgenden Form -- keine derselben bleibt fix; jede
momentane Erregung bringt wieder neue Bilder und Vorstellungen,
mit deren Auftreten die alten vergessen werden, die Stimmung selbst
ist wechselnd, mit dem Aufhören der einen wird auch ihre Erklä-
rung unnöthig, die Wahnideen haben gar keine Zeit, sich durch An-
ziehen verwandter Vorstellungen auszubreiten und zu befestigen. Der
Kranke äussert auch oft diese Ideen zwar laut und lärmend genug,
aber doch nicht im Tone tiefer Ueberzeugung, ja er kann wohl selbst
darüber lachen. Es verhält sich dabei ungefähr wie bei Kindern, die
Comödie spielen, und indem sie sich in der geforderten Stimmung
ganz aufgehen lassen, sich für Augenblicke wirklich für den Helden
halten, dabei aber immerhin wissen, dass sie diess von den Zu-
schauern doch nicht ganz im Ernste verlangen können.

Es ist einer besonderen Beachtung werth, wie sich in vielen Fällen von
Tobsucht, abgesehen von den erwähnten Störungen, die Intelligenz in grossem
Umfange wenig versehrt zeigt, wie sich namentlich keine wirkliche Schwäche
und Abnahme derselben kund thut. Oft ist ungeachtet einer grossen Verworren-
heit nicht nur das Gedächtniss für die Vergangenheit treu, sondern auch wird in
manchen Fällen Alles aus der kranken Periode selbst wohl behalten. Nicht sel-
ten kann der Kranke durch eine erinnernde Ansprache momentan aus der Faselei

Verstandes-Störungen.
Die übermüthige, freche, lustige, ausgelassene, gesteigerte Stimmung,
das Gefühl der Freiheit im Streben, der Fülle im Vorstellen ruft
nach dem Denkgesetze der Causalität Vorstellungen von Grösse, Er-
habenheit, von grossem Reichthum, einer grossen psychischen oder
geistigen Macht etc. hervor, welcher ja unter sonstigen Umständen allein
in dieser Weise das Denken und Streben frei gegeben ist. Die exaltirte
Stimmung der Freiheit und Kraft muss doch einen Grund haben; es muss
ihr etwas im Ich entsprechen, das Ich muss momentan ein Anderes ge-
worden sein, und dieses Anderssein kann nur mit einem Bilde, zu dem
jeder augenblickliche Einfall sich brauchen lässt, ausgedrückt werden.
Der Kranke kann sich nun Napoleon, Messias, Gott, kurz überhaupt etwas
Grosses nennen; er kann behaupten, alle Wissenschaften zu verstehen,
über alle Schätze der Welt zu gebieten etc.; er kann auch ganz
sinnlose Bezeichnungen wählen, er kann z. B. in einem Athem sagen:
Ich bin Napoleon, ich bin dieser Stuhl, ich bin Sie u. dergl.; ent-
weder fühlt er hier eine Unvollständigkeit, auszudrücken, wie es ihm
eigentlich wirklich zu Muthe ist und sucht dieser durch Häufung
von Bildern abzuhelfen, oder er sucht damit dunkel eine grossartige
Allgegenwart, eine Art Sein in Allem geltend zu machen, wie solches
seiner exaltirten Stimmung wohl ansteht.

Aber — und diess unterscheidet eben diese Wahnvorstellungen
von denen der folgenden Form — keine derselben bleibt fix; jede
momentane Erregung bringt wieder neue Bilder und Vorstellungen,
mit deren Auftreten die alten vergessen werden, die Stimmung selbst
ist wechselnd, mit dem Aufhören der einen wird auch ihre Erklä-
rung unnöthig, die Wahnideen haben gar keine Zeit, sich durch An-
ziehen verwandter Vorstellungen auszubreiten und zu befestigen. Der
Kranke äussert auch oft diese Ideen zwar laut und lärmend genug,
aber doch nicht im Tone tiefer Ueberzeugung, ja er kann wohl selbst
darüber lachen. Es verhält sich dabei ungefähr wie bei Kindern, die
Comödie spielen, und indem sie sich in der geforderten Stimmung
ganz aufgehen lassen, sich für Augenblicke wirklich für den Helden
halten, dabei aber immerhin wissen, dass sie diess von den Zu-
schauern doch nicht ganz im Ernste verlangen können.

Es ist einer besonderen Beachtung werth, wie sich in vielen Fällen von
Tobsucht, abgesehen von den erwähnten Störungen, die Intelligenz in grossem
Umfange wenig versehrt zeigt, wie sich namentlich keine wirkliche Schwäche
und Abnahme derselben kund thut. Oft ist ungeachtet einer grossen Verworren-
heit nicht nur das Gedächtniss für die Vergangenheit treu, sondern auch wird in
manchen Fällen Alles aus der kranken Periode selbst wohl behalten. Nicht sel-
ten kann der Kranke durch eine erinnernde Ansprache momentan aus der Faselei

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[221/0235] Verstandes-Störungen. Die übermüthige, freche, lustige, ausgelassene, gesteigerte Stimmung, das Gefühl der Freiheit im Streben, der Fülle im Vorstellen ruft nach dem Denkgesetze der Causalität Vorstellungen von Grösse, Er- habenheit, von grossem Reichthum, einer grossen psychischen oder geistigen Macht etc. hervor, welcher ja unter sonstigen Umständen allein in dieser Weise das Denken und Streben frei gegeben ist. Die exaltirte Stimmung der Freiheit und Kraft muss doch einen Grund haben; es muss ihr etwas im Ich entsprechen, das Ich muss momentan ein Anderes ge- worden sein, und dieses Anderssein kann nur mit einem Bilde, zu dem jeder augenblickliche Einfall sich brauchen lässt, ausgedrückt werden. Der Kranke kann sich nun Napoleon, Messias, Gott, kurz überhaupt etwas Grosses nennen; er kann behaupten, alle Wissenschaften zu verstehen, über alle Schätze der Welt zu gebieten etc.; er kann auch ganz sinnlose Bezeichnungen wählen, er kann z. B. in einem Athem sagen: Ich bin Napoleon, ich bin dieser Stuhl, ich bin Sie u. dergl.; ent- weder fühlt er hier eine Unvollständigkeit, auszudrücken, wie es ihm eigentlich wirklich zu Muthe ist und sucht dieser durch Häufung von Bildern abzuhelfen, oder er sucht damit dunkel eine grossartige Allgegenwart, eine Art Sein in Allem geltend zu machen, wie solches seiner exaltirten Stimmung wohl ansteht. Aber — und diess unterscheidet eben diese Wahnvorstellungen von denen der folgenden Form — keine derselben bleibt fix; jede momentane Erregung bringt wieder neue Bilder und Vorstellungen, mit deren Auftreten die alten vergessen werden, die Stimmung selbst ist wechselnd, mit dem Aufhören der einen wird auch ihre Erklä- rung unnöthig, die Wahnideen haben gar keine Zeit, sich durch An- ziehen verwandter Vorstellungen auszubreiten und zu befestigen. Der Kranke äussert auch oft diese Ideen zwar laut und lärmend genug, aber doch nicht im Tone tiefer Ueberzeugung, ja er kann wohl selbst darüber lachen. Es verhält sich dabei ungefähr wie bei Kindern, die Comödie spielen, und indem sie sich in der geforderten Stimmung ganz aufgehen lassen, sich für Augenblicke wirklich für den Helden halten, dabei aber immerhin wissen, dass sie diess von den Zu- schauern doch nicht ganz im Ernste verlangen können. Es ist einer besonderen Beachtung werth, wie sich in vielen Fällen von Tobsucht, abgesehen von den erwähnten Störungen, die Intelligenz in grossem Umfange wenig versehrt zeigt, wie sich namentlich keine wirkliche Schwäche und Abnahme derselben kund thut. Oft ist ungeachtet einer grossen Verworren- heit nicht nur das Gedächtniss für die Vergangenheit treu, sondern auch wird in manchen Fällen Alles aus der kranken Periode selbst wohl behalten. Nicht sel- ten kann der Kranke durch eine erinnernde Ansprache momentan aus der Faselei

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/235>, abgerufen am 04.05.2024.