Zweiter Abschnitt. Die psychischen Exaltationszustände. Die Manie.
§. 107.
Während die reinsten und exquisitesten Formen der Melancholie sich als Zustände von Depression der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens, von Concentration auf einen traurigen Affect, von krankhaftem Insichsein, in den höchsten Graden sogar mit Un- fähigkeit zu jeder Kraftäusserung darstellten, haben wir gesehen, wie in den zuletzt betrachteten Formen immer mehr und mehr krank- hafte Antriebe zu Willensäusserungen die affectvolle Stimmung be- gleiteten. Die Möglichkeit, den Affect durch Handlungen zu äussern und sich seiner damit zu entäussern, zeigte schon das Freierwerden der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung an; je stärker und anhaltender solche Impulse werden, in je grösserem Umfange und in je selbständigerer Weise das Streben wieder frei wird, um so mehr ergeben sich Zustände anhaltender Aufgeregtheit und Exaltation des Wollens, mit der sich dann auch leicht Erhöhung der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens verbindet.
Wir begreifen diese Zustände, welche man (Jessen) mit Recht im Gegensatze zur Melancholie als ein krankhaftes Aussersich- sein bezeichnet hat, unter dem Namen der Manie (Tollheit), und sie zerfallen für uns wieder in zwei verschiedene, übrigens enge mit einander zusammenhängende, nicht selten in einander übergehende, noch häufiger wie fragmentarisch unter sich gemischte Zustände oder Formen, die Tobsucht und den Wahnsinn (sensu strictiori).
Das Grundleiden in den maniacalischen Zuständen besteht nem- lich in einer Störung der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung, und zwar von der Art, dass dieselbe frei, losgelassen, ungebunden gesteigert sich zeigt, und dass eben damit das Individuum das Bedürfniss erhöhter Kraftäusserung empfindet. Aus diesem Trieb zu vermehrter psychischer Bewegung von innen nach aussen, aus dieser vermehrten Energie und dem erweiterten Umfang der Strebungen, aus dieser Ausschweifung des Wollens, welche den Mittelpunkt der maniacalischen Störungen ausmachen, ergeben sich als von einem gemeinsamen Ursprunge diese beiden, in ihrem Wesen und in ihrer reinen Aeusserungsweise bald sehr verschiedenen Formen. Einmal nem- lich kann sich dieses Bedürfniss grosser psychischer Kraftäusserung
Griesinger, psych. Krankhtn. 14
Zweiter Abschnitt. Die psychischen Exaltationszustände. Die Manie.
§. 107.
Während die reinsten und exquisitesten Formen der Melancholie sich als Zustände von Depression der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens, von Concentration auf einen traurigen Affect, von krankhaftem Insichsein, in den höchsten Graden sogar mit Un- fähigkeit zu jeder Kraftäusserung darstellten, haben wir gesehen, wie in den zuletzt betrachteten Formen immer mehr und mehr krank- hafte Antriebe zu Willensäusserungen die affectvolle Stimmung be- gleiteten. Die Möglichkeit, den Affect durch Handlungen zu äussern und sich seiner damit zu entäussern, zeigte schon das Freierwerden der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung an; je stärker und anhaltender solche Impulse werden, in je grösserem Umfange und in je selbständigerer Weise das Streben wieder frei wird, um so mehr ergeben sich Zustände anhaltender Aufgeregtheit und Exaltation des Wollens, mit der sich dann auch leicht Erhöhung der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens verbindet.
Wir begreifen diese Zustände, welche man (Jessen) mit Recht im Gegensatze zur Melancholie als ein krankhaftes Aussersich- sein bezeichnet hat, unter dem Namen der Manie (Tollheit), und sie zerfallen für uns wieder in zwei verschiedene, übrigens enge mit einander zusammenhängende, nicht selten in einander übergehende, noch häufiger wie fragmentarisch unter sich gemischte Zustände oder Formen, die Tobsucht und den Wahnsinn (sensu strictiori).
Das Grundleiden in den maniacalischen Zuständen besteht nem- lich in einer Störung der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung, und zwar von der Art, dass dieselbe frei, losgelassen, ungebunden gesteigert sich zeigt, und dass eben damit das Individuum das Bedürfniss erhöhter Kraftäusserung empfindet. Aus diesem Trieb zu vermehrter psychischer Bewegung von innen nach aussen, aus dieser vermehrten Energie und dem erweiterten Umfang der Strebungen, aus dieser Ausschweifung des Wollens, welche den Mittelpunkt der maniacalischen Störungen ausmachen, ergeben sich als von einem gemeinsamen Ursprunge diese beiden, in ihrem Wesen und in ihrer reinen Aeusserungsweise bald sehr verschiedenen Formen. Einmal nem- lich kann sich dieses Bedürfniss grosser psychischer Kraftäusserung
Griesinger, psych. Krankhtn. 14
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Zweiter Abschnitt.
Die psychischen Exaltationszustände.
Die Manie.
§. 107.
Während die reinsten und exquisitesten Formen der Melancholie
sich als Zustände von Depression der Selbstempfindung und des
Selbstvertrauens, von Concentration auf einen traurigen Affect, von
krankhaftem Insichsein, in den höchsten Graden sogar mit Un-
fähigkeit zu jeder Kraftäusserung darstellten, haben wir gesehen, wie
in den zuletzt betrachteten Formen immer mehr und mehr krank-
hafte Antriebe zu Willensäusserungen die affectvolle Stimmung be-
gleiteten. Die Möglichkeit, den Affect durch Handlungen zu äussern
und sich seiner damit zu entäussern, zeigte schon das Freierwerden
der motorischen Seite des Seelenlebens, der Strebung an; je stärker
und anhaltender solche Impulse werden, in je grösserem Umfange
und in je selbständigerer Weise das Streben wieder frei wird, um so
mehr ergeben sich Zustände anhaltender Aufgeregtheit und
Exaltation des Wollens, mit der sich dann auch leicht Erhöhung
der Selbstempfindung und des Selbstvertrauens verbindet.
Wir begreifen diese Zustände, welche man (Jessen) mit Recht
im Gegensatze zur Melancholie als ein krankhaftes Aussersich-
sein bezeichnet hat, unter dem Namen der Manie (Tollheit), und
sie zerfallen für uns wieder in zwei verschiedene, übrigens enge mit
einander zusammenhängende, nicht selten in einander übergehende,
noch häufiger wie fragmentarisch unter sich gemischte Zustände oder
Formen, die Tobsucht und den Wahnsinn (sensu strictiori).
Das Grundleiden in den maniacalischen Zuständen besteht nem-
lich in einer Störung der motorischen Seite des Seelenlebens, der
Strebung, und zwar von der Art, dass dieselbe frei, losgelassen,
ungebunden gesteigert sich zeigt, und dass eben damit das Individuum
das Bedürfniss erhöhter Kraftäusserung empfindet. Aus diesem Trieb
zu vermehrter psychischer Bewegung von innen nach aussen, aus
dieser vermehrten Energie und dem erweiterten Umfang der Strebungen,
aus dieser Ausschweifung des Wollens, welche den Mittelpunkt der
maniacalischen Störungen ausmachen, ergeben sich als von einem
gemeinsamen Ursprunge diese beiden, in ihrem Wesen und in ihrer
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/223>, abgerufen am 26.11.2024.
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