Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.und Zerstörungstrieben. Fälle zweiter Reihe, wo solche Impulse in schon längst verdüsterten, inner-lich vereinsamten, menschenfeindlichen Seelen entstehen. Je mehr ein krankhafter Zustand von Insichgekehrtsein mit negativem Affect habituell wird und sich fixirt, um so mehr tritt der Mensch innerlich heraus aus der Gemeinschaft freundlicher und wohlwollender Regungen, die die Menschen untereinander verbindet und er kann fortschreitend zu einem Standpunkt kommen, der fast ausserhalb der Menschlichkeit und ihrer Interessen liegt. Gegen die Welt, die durchaus wider- wärtig, finster und gräulich geworden ist, mag sich hier wohl die Stimmung des bittersten Grolles entwickeln, es mögen hier wohl Antriebe zu dunkeln Thaten auftauchen, in denen der Mensch gleich- sam alle die eingebildeten Kränkungen und Leiden, die Widerwärtig- keit aller Eindrücke, deren Quelle er statt in sich, immer in der Aussenwelt sucht, dieser in Einer eclatanten Unthat heimgibt. Auch hier werden oft nahestehende Personen, die momentan einen ver- stärkten Hass des Kranken auf sich zogen, zu Opfern solcher An- triebe; häufiger aber sind es hier gleichgültige Menschen, als ob es dem feindlichen Sinne des Kranken überhaupt um einen Repräsentanten der verhassten Gattung zu thun wäre, und die unschuldigen Reize eines Kindes, die Schönheit einer Frau können hier manchmal zu Herausforderungen für jene blutgierige Stimmung werden. Der vielbesprochene Fall der Henriette Cornier gehört in diese Categorie und Zerstörungstrieben. Fälle zweiter Reihe, wo solche Impulse in schon längst verdüsterten, inner-lich vereinsamten, menschenfeindlichen Seelen entstehen. Je mehr ein krankhafter Zustand von Insichgekehrtsein mit negativem Affect habituell wird und sich fixirt, um so mehr tritt der Mensch innerlich heraus aus der Gemeinschaft freundlicher und wohlwollender Regungen, die die Menschen untereinander verbindet und er kann fortschreitend zu einem Standpunkt kommen, der fast ausserhalb der Menschlichkeit und ihrer Interessen liegt. Gegen die Welt, die durchaus wider- wärtig, finster und gräulich geworden ist, mag sich hier wohl die Stimmung des bittersten Grolles entwickeln, es mögen hier wohl Antriebe zu dunkeln Thaten auftauchen, in denen der Mensch gleich- sam alle die eingebildeten Kränkungen und Leiden, die Widerwärtig- keit aller Eindrücke, deren Quelle er statt in sich, immer in der Aussenwelt sucht, dieser in Einer eclatanten Unthat heimgibt. Auch hier werden oft nahestehende Personen, die momentan einen ver- stärkten Hass des Kranken auf sich zogen, zu Opfern solcher An- triebe; häufiger aber sind es hier gleichgültige Menschen, als ob es dem feindlichen Sinne des Kranken überhaupt um einen Repräsentanten der verhassten Gattung zu thun wäre, und die unschuldigen Reize eines Kindes, die Schönheit einer Frau können hier manchmal zu Herausforderungen für jene blutgierige Stimmung werden. Der vielbesprochene Fall der Henriette Cornier gehört in diese Categorie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0219" n="205"/><fw place="top" type="header">und Zerstörungstrieben.</fw><lb/> Fälle zweiter Reihe, wo solche Impulse in schon längst verdüsterten, inner-<lb/> lich vereinsamten, menschenfeindlichen Seelen entstehen. 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III. p. 185—186. — In vielen dieser Fälle<lb/> lassen sich mannigfache körperliche Störungen, theils von erfahrungsmässigem<lb/> Einflusse auf die Erzeugung einer Gehirnaffection, theils schon weitere Symptome<lb/> einer solchen, nachweisen, anhaltende oder vorübergehende Kopfcongestion, Stö-<lb/> rungen der Menstruation, Onanie und Krankheiten der Sexualorgane, Angstem-<lb/> pfindungen, die von der Herzgrube aufsteigen, Umneblung der Gesichtsobjecte,<lb/> allgemeines Unwohlsein, Mattigkeit, Stuhlverstopfung etc. Eine Anweisung zur<lb/> forensischen Beurtheilung solcher Fälle gehört nicht hierher; es versteht sich,<lb/> dass sich solche nur auf <hi rendition="#g">wissenschaftliche</hi> Gründe, hervorgehend aus der<lb/> genauesten Ermittlung der psychologischen und organischen <hi rendition="#g">Genesis</hi> solcher<lb/> Antriebe, stützen darf. So jämmerlich es ist, wenn häufig die Lehre von den<lb/> krankhaften Antrieben zum letzten Auskunftsmittel in der Vertheidigung schlechter<lb/> Sachen gemacht wird, so wenig die ärztlichen Gutachten — nach Idelers Aus-<lb/> drucke — jenen italiänischen Kirchen gleichen dürfen, in denen jeder Bandit ein<lb/> sicheres Asyl findet, so sehr muss die Medicin in diesen Dingen ihre Rechte<lb/> wahren; möchte sie doch nie, im Conflict mit den gangbaren Meinungen und mit<lb/> Ansichten, die nur auf vollständiger Unkenntniss des kranken Seelenlebens be-<lb/> ruhen, die Waffen ihrer wissenschaftlichen Gründe strecken! —</p> </div><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [205/0219]
und Zerstörungstrieben.
Fälle zweiter Reihe, wo solche Impulse in schon längst verdüsterten, inner-
lich vereinsamten, menschenfeindlichen Seelen entstehen. Je mehr ein
krankhafter Zustand von Insichgekehrtsein mit negativem Affect habituell
wird und sich fixirt, um so mehr tritt der Mensch innerlich heraus
aus der Gemeinschaft freundlicher und wohlwollender Regungen, die
die Menschen untereinander verbindet und er kann fortschreitend
zu einem Standpunkt kommen, der fast ausserhalb der Menschlichkeit
und ihrer Interessen liegt. Gegen die Welt, die durchaus wider-
wärtig, finster und gräulich geworden ist, mag sich hier wohl die
Stimmung des bittersten Grolles entwickeln, es mögen hier wohl
Antriebe zu dunkeln Thaten auftauchen, in denen der Mensch gleich-
sam alle die eingebildeten Kränkungen und Leiden, die Widerwärtig-
keit aller Eindrücke, deren Quelle er statt in sich, immer in der
Aussenwelt sucht, dieser in Einer eclatanten Unthat heimgibt. Auch
hier werden oft nahestehende Personen, die momentan einen ver-
stärkten Hass des Kranken auf sich zogen, zu Opfern solcher An-
triebe; häufiger aber sind es hier gleichgültige Menschen, als ob es dem
feindlichen Sinne des Kranken überhaupt um einen Repräsentanten
der verhassten Gattung zu thun wäre, und die unschuldigen Reize
eines Kindes, die Schönheit einer Frau können hier manchmal zu
Herausforderungen für jene blutgierige Stimmung werden.
Der vielbesprochene Fall der Henriette Cornier gehört in diese Categorie
(S. Marc. II. p. 48. 41). Beispiele solcher Zustände, schon im frühen Kindes-
alter entwickelt, s. bei Marc. I. p. 66. Esquirol, l. c. II. p. 61. Ebenso vgl.
die zwei Fälle von Lallemand, l. c. III. p. 185—186. — In vielen dieser Fälle
lassen sich mannigfache körperliche Störungen, theils von erfahrungsmässigem
Einflusse auf die Erzeugung einer Gehirnaffection, theils schon weitere Symptome
einer solchen, nachweisen, anhaltende oder vorübergehende Kopfcongestion, Stö-
rungen der Menstruation, Onanie und Krankheiten der Sexualorgane, Angstem-
pfindungen, die von der Herzgrube aufsteigen, Umneblung der Gesichtsobjecte,
allgemeines Unwohlsein, Mattigkeit, Stuhlverstopfung etc. Eine Anweisung zur
forensischen Beurtheilung solcher Fälle gehört nicht hierher; es versteht sich,
dass sich solche nur auf wissenschaftliche Gründe, hervorgehend aus der
genauesten Ermittlung der psychologischen und organischen Genesis solcher
Antriebe, stützen darf. So jämmerlich es ist, wenn häufig die Lehre von den
krankhaften Antrieben zum letzten Auskunftsmittel in der Vertheidigung schlechter
Sachen gemacht wird, so wenig die ärztlichen Gutachten — nach Idelers Aus-
drucke — jenen italiänischen Kirchen gleichen dürfen, in denen jeder Bandit ein
sicheres Asyl findet, so sehr muss die Medicin in diesen Dingen ihre Rechte
wahren; möchte sie doch nie, im Conflict mit den gangbaren Meinungen und mit
Ansichten, die nur auf vollständiger Unkenntniss des kranken Seelenlebens be-
ruhen, die Waffen ihrer wissenschaftlichen Gründe strecken! —
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