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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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mords gerettet werden konnte; ein solcher Anfall dauerte 5 bis 6 Tage,
verlor sich dann vollständig und Blutentziehungen am Kopfe schienen
jedesmal wesentlich zu seiner Abkürzung und Milderung beizutragen.
-- Vom Selbstmorde auszuschliessen sind die Fälle, wo Geisteskranke
sich unabsichtlich, ohne sterben zu wollen, den Tod geben, wenn
z. B. ein Maniacus im Delirium das Fenster für die Thüre hält und
hinausgehen will, wenn ein Anderer aus dem Fenster springt, weil
"ihm Gott gesagt hatte, geh' zum Fenster, du wirst wie ein Vogel
fliegen" *), oder wenn ein Wahnsinniger die Mission der allgemeinen
Menschenbekehrung haben will, und sich zum Beweise für die Wirk-
lichkeit seiner Sendung und für seine Unverwundbarkeit von einer
Brücke herabstürzt und ertrinkt **). Diess sind keine Selbstmorde;
diese Kranken wollten sich nicht tödten. --

XIII. Plötzlich auftretender Raptus zum Selbtmord mit
Umneblung des Bewusstseins und ohne Rückerinnerung
.
Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bis-
her in glücklichen Verhältnissen und ausser einigem hysterischen Kopfschmerz
und Dysmennorrhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem
Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil
selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren
sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an
ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz ver-
schwunden war, sitzt sie Nachmittags 31/2 Uhr anscheinend heiter auf dem Flur
ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste
Veranlassung springt sie auf und ruft: "Ich muss mich ersäufen,
ich muss mich ersäufen
" rennt darauf fort und gerade zu dem nicht
weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch
ohne Zögerung hineinstürzt. Sie wurde sogleich wieder aus dem Wasser gezo-
gen und, dem Scheine nach schon todt, in ihr Haus getragen. Ein schnell
herbeigeeilter Arzt rief sie zwar bald wieder in das Leben zurück, doch blieb
sie stumm und starrte mit offenen, fest auf einen Punkt gerichteten Augen vor
sich hin, ohne auf das, was um sie vorgieng, weiter zu achten. Ich sah sie erst
am 27. Juli Abends. Sie hatte während dieser seit dem Anfalle verflossenen
Tage zwar Alles ruhig mit sich vornehmen lassen. auch Arzneien niedergeschluckt,
dennoch aber kein Wort gesprochen, weder gegessen noch getrunken, nicht ge-
schlafen und keine Theilnahme an irgend etwas bewiesen. Als ich spät Abends
zu ihr kam, lag sie im Bette und seufzte beständig. Auf meine Anrede fuhr sie
zusammen und rief meinen Namen aus. Es wurde Licht gebracht und da sie
mich erblickte, fragte sie: "Mein Gott, wo bin ich, und was ist mit
mir vorgefallen
?" worauf sie heftig zu weinen anfieng. Ich beruhigte sie;
nachdem sie ihren Mann noch wieder erkannt und mit ihm gesprochen und nach
ihren Kindern gefragt hatte, schlief sie ein und ruhte ungestört bis zum Morgen.

*) Leuret, Fragments p. 290.
**) Falret, hypoc. et suic. p. 139.

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mords gerettet werden konnte; ein solcher Anfall dauerte 5 bis 6 Tage,
verlor sich dann vollständig und Blutentziehungen am Kopfe schienen
jedesmal wesentlich zu seiner Abkürzung und Milderung beizutragen.
— Vom Selbstmorde auszuschliessen sind die Fälle, wo Geisteskranke
sich unabsichtlich, ohne sterben zu wollen, den Tod geben, wenn
z. B. ein Maniacus im Delirium das Fenster für die Thüre hält und
hinausgehen will, wenn ein Anderer aus dem Fenster springt, weil
„ihm Gott gesagt hatte, geh’ zum Fenster, du wirst wie ein Vogel
fliegen“ *), oder wenn ein Wahnsinniger die Mission der allgemeinen
Menschenbekehrung haben will, und sich zum Beweise für die Wirk-
lichkeit seiner Sendung und für seine Unverwundbarkeit von einer
Brücke herabstürzt und ertrinkt **). Diess sind keine Selbstmorde;
diese Kranken wollten sich nicht tödten. —

XIII. Plötzlich auftretender Raptus zum Selbtmord mit
Umneblung des Bewusstseins und ohne Rückerinnerung
.
Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bis-
her in glücklichen Verhältnissen und ausser einigem hysterischen Kopfschmerz
und Dysmennorrhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem
Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil
selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren
sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an
ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz ver-
schwunden war, sitzt sie Nachmittags 3½ Uhr anscheinend heiter auf dem Flur
ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste
Veranlassung springt sie auf und ruft: „Ich muss mich ersäufen,
ich muss mich ersäufen
“ rennt darauf fort und gerade zu dem nicht
weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch
ohne Zögerung hineinstürzt. Sie wurde sogleich wieder aus dem Wasser gezo-
gen und, dem Scheine nach schon todt, in ihr Haus getragen. Ein schnell
herbeigeeilter Arzt rief sie zwar bald wieder in das Leben zurück, doch blieb
sie stumm und starrte mit offenen, fest auf einen Punkt gerichteten Augen vor
sich hin, ohne auf das, was um sie vorgieng, weiter zu achten. Ich sah sie erst
am 27. Juli Abends. Sie hatte während dieser seit dem Anfalle verflossenen
Tage zwar Alles ruhig mit sich vornehmen lassen. auch Arzneien niedergeschluckt,
dennoch aber kein Wort gesprochen, weder gegessen noch getrunken, nicht ge-
schlafen und keine Theilnahme an irgend etwas bewiesen. Als ich spät Abends
zu ihr kam, lag sie im Bette und seufzte beständig. Auf meine Anrede fuhr sie
zusammen und rief meinen Namen aus. Es wurde Licht gebracht und da sie
mich erblickte, fragte sie: „Mein Gott, wo bin ich, und was ist mit
mir vorgefallen
?“ worauf sie heftig zu weinen anfieng. Ich beruhigte sie;
nachdem sie ihren Mann noch wieder erkannt und mit ihm gesprochen und nach
ihren Kindern gefragt hatte, schlief sie ein und ruhte ungestört bis zum Morgen.

*) Leuret, Fragments p. 290.
**) Falret, hypoc. et suic. p. 139.
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[196/0210] Beispiele von mords gerettet werden konnte; ein solcher Anfall dauerte 5 bis 6 Tage, verlor sich dann vollständig und Blutentziehungen am Kopfe schienen jedesmal wesentlich zu seiner Abkürzung und Milderung beizutragen. — Vom Selbstmorde auszuschliessen sind die Fälle, wo Geisteskranke sich unabsichtlich, ohne sterben zu wollen, den Tod geben, wenn z. B. ein Maniacus im Delirium das Fenster für die Thüre hält und hinausgehen will, wenn ein Anderer aus dem Fenster springt, weil „ihm Gott gesagt hatte, geh’ zum Fenster, du wirst wie ein Vogel fliegen“ *), oder wenn ein Wahnsinniger die Mission der allgemeinen Menschenbekehrung haben will, und sich zum Beweise für die Wirk- lichkeit seiner Sendung und für seine Unverwundbarkeit von einer Brücke herabstürzt und ertrinkt **). Diess sind keine Selbstmorde; diese Kranken wollten sich nicht tödten. — XIII. Plötzlich auftretender Raptus zum Selbtmord mit Umneblung des Bewusstseins und ohne Rückerinnerung. Eine noch lebende Frau, jetzt (1821) drei und vierzig Jahre alt, hatte bis- her in glücklichen Verhältnissen und ausser einigem hysterischen Kopfschmerz und Dysmennorrhoe gesund gelebt. Bis zum Jahre 1804 wurde sie von keinem Unfalle betroffen. Ihr Mann liebte sie zärtlich, ihre Kinder, die sie zum Theil selber genährt hatte, wuchsen kräftig auf und ihre Vermögensumstände waren sehr gut. Am 24. Juli dieses Jahres aber, nachdem sie einige Tage zuvor an ihrem gewöhnlichen Kopfschmerz gelitten hatte, der jetzt aber schon ganz ver- schwunden war, sitzt sie Nachmittags 3½ Uhr anscheinend heiter auf dem Flur ihres Hauses und beschäftigt sich mit Nähen. Plötzlich und ohne die geringste Veranlassung springt sie auf und ruft: „Ich muss mich ersäufen, ich muss mich ersäufen“ rennt darauf fort und gerade zu dem nicht weit von ihrer Wohnung entfernten Wallgraben der Stadt, in den sie sich auch ohne Zögerung hineinstürzt. Sie wurde sogleich wieder aus dem Wasser gezo- gen und, dem Scheine nach schon todt, in ihr Haus getragen. Ein schnell herbeigeeilter Arzt rief sie zwar bald wieder in das Leben zurück, doch blieb sie stumm und starrte mit offenen, fest auf einen Punkt gerichteten Augen vor sich hin, ohne auf das, was um sie vorgieng, weiter zu achten. Ich sah sie erst am 27. Juli Abends. Sie hatte während dieser seit dem Anfalle verflossenen Tage zwar Alles ruhig mit sich vornehmen lassen. auch Arzneien niedergeschluckt, dennoch aber kein Wort gesprochen, weder gegessen noch getrunken, nicht ge- schlafen und keine Theilnahme an irgend etwas bewiesen. Als ich spät Abends zu ihr kam, lag sie im Bette und seufzte beständig. Auf meine Anrede fuhr sie zusammen und rief meinen Namen aus. Es wurde Licht gebracht und da sie mich erblickte, fragte sie: „Mein Gott, wo bin ich, und was ist mit mir vorgefallen?“ worauf sie heftig zu weinen anfieng. Ich beruhigte sie; nachdem sie ihren Mann noch wieder erkannt und mit ihm gesprochen und nach ihren Kindern gefragt hatte, schlief sie ein und ruhte ungestört bis zum Morgen. *) Leuret, Fragments p. 290. **) Falret, hypoc. et suic. p. 139.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/210>, abgerufen am 27.11.2024.