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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Symptomatologie der Schwermuth.
und fernerer Befürchtungen findet. Oder er fühlt sich ruhelos, von
unbestimmter Qual herumgetrieben, es ist ihm, wie einem von Feinden
Verfolgten; bald hält er sich wirklich für verfolgt, von Feinden, ge-
heimen Complotten, Spionen umgeben, und da er Alles auf sich
bezieht, findet diess Delirium in jedem geringfügigen Umstande Nahrung.

Oder der Kranke, der früher religiöse Vorstellungen nährte, fühlt,
wie auch zu diesem Kreise von Anschauungen sein ganzes Verhalten
sich geändert hat, wie ihm der Zustand von Angst und Unruhe jede
Gemüthssammlung unmöglich macht, wie er daher nicht mehr beten
kann oder wenn er es versucht, auch hier von finstern, negativen
Vorstellungen belästigt wird, wie er von der Kirche so gut als von
allem Uebrigen nur widrige Eindrücke erhält; so erscheint er sich in
seiner Ausnahmsstellung als ein Verworfener, unmittelbar von Gott
Verstossener, dem Teufel und der ewigen Verdammniss Uebergebener
und bald erheben sich die Vorstellungen eigener Verschuldung, viel-
facher Sünden, vernachlässigter Pflichten etc., wo es dann vom Zufalle
abhängt, auf welchem Gedanken gerade der Kranke ruhen bleibt, um
ihn als halb oder ganz fixirten stets zu wiederholen.

Einen wesentlichen Character haben eben alle diese melancho-
lischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht- und
Ueberwältigtwerdens. Aber man sieht leicht ein, wie mannigfaltig ihr
specieller Inhalt nach der Bildungsstufe und dem Character, nach früheren
Erlebnissen und nach zufälligen Eindrücken bei den einzelnen Kranken
sein muss. Dasselbe Gefühl des Sich-selbst-verlorenhabens, des Hin-
gegebenseins an fremdartige, bizarre Empfindungen und Vorstellungen
das dem abergläubischen Bauer die Vorstellung des Behextseins er-
weckt, kann beim Gebildeteren z. B. die Idee hervorrufen, unter geheimen
Einflüssen anderer Menschen, unter Beeinträchtigungen durch Electricität,
Magnetismus, Chemie etc. zu leiden. Dem Einen ist es, als seien seine
liebsten Güter, Kinder, Verwandte, oder sein Vermögen für ihn zu Grunde
gegangen, er glaubt es und fürchtet nun mit seiner ganzen Familie aus
vollständigem Mangel verhungern zu müssen. Ein Anderer hält sich
für ruinirt in seinen Geschäften, für abgesetzt von seinem Amte, für
verwickelt in die schwersten Criminal-Untersuchungen, klagt sich an,
seine Familie an den Bettelstab gebracht, dem Elend preisgegeben
zu haben etc. Ein Andermal ist es dem Kranken, wenn er so die
Umwandlung seiner ganzen Empfindungsweise und die Unmöglichkeit
fühlt, das gewohnte Mass humanen Antheils an der Welt und
menschlicher Beschäftigung festzuhalten, als könne er selbst gar kein
Mensch mehr sein, als müsse er zum Thier geworden, ja in ein

Symptomatologie der Schwermuth.
und fernerer Befürchtungen findet. Oder er fühlt sich ruhelos, von
unbestimmter Qual herumgetrieben, es ist ihm, wie einem von Feinden
Verfolgten; bald hält er sich wirklich für verfolgt, von Feinden, ge-
heimen Complotten, Spionen umgeben, und da er Alles auf sich
bezieht, findet diess Delirium in jedem geringfügigen Umstande Nahrung.

Oder der Kranke, der früher religiöse Vorstellungen nährte, fühlt,
wie auch zu diesem Kreise von Anschauungen sein ganzes Verhalten
sich geändert hat, wie ihm der Zustand von Angst und Unruhe jede
Gemüthssammlung unmöglich macht, wie er daher nicht mehr beten
kann oder wenn er es versucht, auch hier von finstern, negativen
Vorstellungen belästigt wird, wie er von der Kirche so gut als von
allem Uebrigen nur widrige Eindrücke erhält; so erscheint er sich in
seiner Ausnahmsstellung als ein Verworfener, unmittelbar von Gott
Verstossener, dem Teufel und der ewigen Verdammniss Uebergebener
und bald erheben sich die Vorstellungen eigener Verschuldung, viel-
facher Sünden, vernachlässigter Pflichten etc., wo es dann vom Zufalle
abhängt, auf welchem Gedanken gerade der Kranke ruhen bleibt, um
ihn als halb oder ganz fixirten stets zu wiederholen.

Einen wesentlichen Character haben eben alle diese melancho-
lischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht- und
Ueberwältigtwerdens. Aber man sieht leicht ein, wie mannigfaltig ihr
specieller Inhalt nach der Bildungsstufe und dem Character, nach früheren
Erlebnissen und nach zufälligen Eindrücken bei den einzelnen Kranken
sein muss. Dasselbe Gefühl des Sich-selbst-verlorenhabens, des Hin-
gegebenseins an fremdartige, bizarre Empfindungen und Vorstellungen
das dem abergläubischen Bauer die Vorstellung des Behextseins er-
weckt, kann beim Gebildeteren z. B. die Idee hervorrufen, unter geheimen
Einflüssen anderer Menschen, unter Beeinträchtigungen durch Electricität,
Magnetismus, Chemie etc. zu leiden. Dem Einen ist es, als seien seine
liebsten Güter, Kinder, Verwandte, oder sein Vermögen für ihn zu Grunde
gegangen, er glaubt es und fürchtet nun mit seiner ganzen Familie aus
vollständigem Mangel verhungern zu müssen. Ein Anderer hält sich
für ruinirt in seinen Geschäften, für abgesetzt von seinem Amte, für
verwickelt in die schwersten Criminal-Untersuchungen, klagt sich an,
seine Familie an den Bettelstab gebracht, dem Elend preisgegeben
zu haben etc. Ein Andermal ist es dem Kranken, wenn er so die
Umwandlung seiner ganzen Empfindungsweise und die Unmöglichkeit
fühlt, das gewohnte Mass humanen Antheils an der Welt und
menschlicher Beschäftigung festzuhalten, als könne er selbst gar kein
Mensch mehr sein, als müsse er zum Thier geworden, ja in ein

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[170/0184] Symptomatologie der Schwermuth. und fernerer Befürchtungen findet. Oder er fühlt sich ruhelos, von unbestimmter Qual herumgetrieben, es ist ihm, wie einem von Feinden Verfolgten; bald hält er sich wirklich für verfolgt, von Feinden, ge- heimen Complotten, Spionen umgeben, und da er Alles auf sich bezieht, findet diess Delirium in jedem geringfügigen Umstande Nahrung. Oder der Kranke, der früher religiöse Vorstellungen nährte, fühlt, wie auch zu diesem Kreise von Anschauungen sein ganzes Verhalten sich geändert hat, wie ihm der Zustand von Angst und Unruhe jede Gemüthssammlung unmöglich macht, wie er daher nicht mehr beten kann oder wenn er es versucht, auch hier von finstern, negativen Vorstellungen belästigt wird, wie er von der Kirche so gut als von allem Uebrigen nur widrige Eindrücke erhält; so erscheint er sich in seiner Ausnahmsstellung als ein Verworfener, unmittelbar von Gott Verstossener, dem Teufel und der ewigen Verdammniss Uebergebener und bald erheben sich die Vorstellungen eigener Verschuldung, viel- facher Sünden, vernachlässigter Pflichten etc., wo es dann vom Zufalle abhängt, auf welchem Gedanken gerade der Kranke ruhen bleibt, um ihn als halb oder ganz fixirten stets zu wiederholen. Einen wesentlichen Character haben eben alle diese melancho- lischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht- und Ueberwältigtwerdens. Aber man sieht leicht ein, wie mannigfaltig ihr specieller Inhalt nach der Bildungsstufe und dem Character, nach früheren Erlebnissen und nach zufälligen Eindrücken bei den einzelnen Kranken sein muss. Dasselbe Gefühl des Sich-selbst-verlorenhabens, des Hin- gegebenseins an fremdartige, bizarre Empfindungen und Vorstellungen das dem abergläubischen Bauer die Vorstellung des Behextseins er- weckt, kann beim Gebildeteren z. B. die Idee hervorrufen, unter geheimen Einflüssen anderer Menschen, unter Beeinträchtigungen durch Electricität, Magnetismus, Chemie etc. zu leiden. Dem Einen ist es, als seien seine liebsten Güter, Kinder, Verwandte, oder sein Vermögen für ihn zu Grunde gegangen, er glaubt es und fürchtet nun mit seiner ganzen Familie aus vollständigem Mangel verhungern zu müssen. Ein Anderer hält sich für ruinirt in seinen Geschäften, für abgesetzt von seinem Amte, für verwickelt in die schwersten Criminal-Untersuchungen, klagt sich an, seine Familie an den Bettelstab gebracht, dem Elend preisgegeben zu haben etc. Ein Andermal ist es dem Kranken, wenn er so die Umwandlung seiner ganzen Empfindungsweise und die Unmöglichkeit fühlt, das gewohnte Mass humanen Antheils an der Welt und menschlicher Beschäftigung festzuhalten, als könne er selbst gar kein Mensch mehr sein, als müsse er zum Thier geworden, ja in ein

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/184>, abgerufen am 24.11.2024.