2) Erziehung. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor- stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt, die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition, als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen- thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver- kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har- monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy- chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent- wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.
Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu- frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge- hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an- haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent- wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden, ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden. Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach-
Einfluss der Erziehung.
§. 72.
2) Erziehung. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor- stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt, die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition, als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen- thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver- kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har- monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy- chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent- wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.
Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu- frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge- hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an- haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent- wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden, ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden. Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0130"n="116"/><fwplace="top"type="header">Einfluss der Erziehung.</fw><lb/><divn="4"><head>§. 72.</head><lb/><p>2) <hirendition="#g">Erziehung</hi>. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor-<lb/>
stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für<lb/>
sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die<lb/>
Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des<lb/>
Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind<lb/>
auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt,<lb/>
die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition,<lb/>
als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen-<lb/>
thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes<lb/>
das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver-<lb/>
kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von<lb/>
Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har-<lb/>
monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem<lb/>
Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter<lb/>
gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy-<lb/>
chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit<lb/>
und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt<lb/>
noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das<lb/>
Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener<lb/>
günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent-<lb/>
wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.</p><lb/><p>Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu-<lb/>
frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität<lb/>
aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge-<lb/>
hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit<lb/>
gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte<lb/>
Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des<lb/>
Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein<lb/>
kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an-<lb/>
haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent-<lb/>
wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und<lb/>
die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein<lb/>
schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum<lb/>
gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit<lb/>
ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem<lb/>
Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden,<lb/>
ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden.<lb/>
Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[116/0130]
Einfluss der Erziehung.
§. 72.
2) Erziehung. Die Richtungen, die im zarten Alter das Vor-
stellen und Wollen des Individuums annimmt, sind entscheidend für
sein ganzes Leben, und hier ist als ein erstes, wichtiges, an die
Heredität zunächst sich anschliessendes Moment der Einfluss des
Beispiels der Eltern auf das Kind zu erwähnen. Mit Ideler sind
auch wir der Ansicht, dass es Fälle s. g. erblichen Irreseins gibt,
die es weniger durch Uebertragung einer organischen Disposition,
als durch eine spätere psychische Fortpflanzung von Charactereigen-
thümlichkeiten geworden sind, indem der Nachahmung des Kindes
das Beispiel gewisser Excentricitäten, gewisser bizarrer und ver-
kehrter Lebensansichten und Richtungen geboten wird, welche von
Anbeginn der Entwickelung eines gesunden, mit der Aussenwelt har-
monirenden Seelenlebens hinderlich werden. Wie es auf diesem
Wege eine Uebertragung der Hysterie von der Mutter auf die Tochter
gibt, so gehen auch von närrischen oder halbnärrischen Eltern psy-
chische Verzerrtheiten auf die Kinder über und Leidenschaftlichkeit
und üble Neigungen prägen sich der jungen Seele ein. Dazu kommt
noch, dass durch einen solchen Zustand der Eltern so häufig das
Familienleben zerrüttet und dadurch das Zusammenwirken jener
günstigen Umstände zerstört wird, welche für eine harmonische Ent-
wickelung des kindlichen Characters wesentliche Erfordernisse sind.
Die eigentlichen Erziehungsfehler betreffen einmal eine allzu-
frühe intellectuelle Anstrengung, bei welcher, mit unzeitiger Präcocität
aller geistigen Processe, die gesunde körperliche Entwickelung ge-
hemmt und der Keim späterer Kränklichkeit und Schwächlichkeit
gelegt wird. Noch wichtiger aber sind ungünstige und verkehrte
Einflüsse auf die Empfindungsweise und die Willensrichtungen des
Kindes. So gibt es Fälle, wo durch übermässige Härte, durch ein
kaltes, abstossendes Verhalten der Eltern zu den Kindern, durch an-
haltende Kränkung, Demüthigung und Gemüthsmisshandlung die Ent-
wickelung der natürlichen wohlwollenden Neigungen gehemmt und
die zartere Empfindung erdrückt wird. Damit wird schon frühe ein
schmerzlicher Widerspruch mit der Aussenwelt in dem Individuum
gesetzt; und namentlich scheint bei einzelnen Naturen, indem sie mit
ihren nicht sobald bezwingbaren, wohlwollenden Neigungen, mit ihrem
Liebebedürfniss zur Flucht in eine imaginäre Welt genöthigt werden,
ein verderblicher Hang zu Phantasterei geweckt und genährt zu werden.
Fast noch verderblicher auf das Kind wirkt jene allzugrosse Nach-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/130>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.