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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Erblichkeit des Irreseins.
etwa 3/5 der Fälle; Jessen *) nimmt sie zu 1/3 an; Bergmann **)
fand nach der kleineren Statistik eines Jahres directe Erblichkeit in 1/5 ,
directe und indirecte zusammen in 1/3 der Fälle. Dagegen wurde
von Jakobi ***) unter 220 Fällen (von Tobsucht) nur in etwa 1/9, dann
unter den Kranken von Bicetre und der Salpetriere (8272 Fälle) nur
in 1/11, und von Lautard im Marseiller Irrenhaus nur in etwa 1/15
der Erkrankungen Erblichkeit constatirt. +)

Diese bedeutenden Differenzen mögen von dem Vorherrschen einzelner Um-
stände herrühren, die als überhaupt wichtige Punkte näher zu beachten sind.

1) Die angeborne Anlage ist da häufiger, wo die Heirathen immer unter
einem kleineren Kreise von Familien oder gar in den Familien selbst geschehen;
dagegen erlischt die Transmission eher bei fortgesetzter Kreuzung mit fremdem
Blut. Der erstere Umstand zeigt sich deutlich unter den höheren Ständen ein-
zelner Länder, auch unter der israelitischen Bevölkerung, besonders auffallend
unter den englischen Quäkern. In dem Irrenhause bei York, das für diese reli-
giöse Secte bestimmt ist, liess sich directe Erblichkeit bei 1/3 der Kranken,
indirecte (Geisteskrankheit von Seitenverwandten) bei einem weiteren Sechstheil,
also beides zusammen in der Hälfte der Fälle nachweisen. ++)

2) Es entstehen weitere bedeutende Differenzen der Angaben dadurch, dass
das einemal nur die Fälle gezählt wurden, wo die Eltern oder Grosseltern geistes-
krank waren, anderemal die Annahme einer Familienanlage auch auf das Irresein
der näheren Seitenverwandten (Oheime, blutsverwandten Vettern) sich gründete.
Das letztere erscheint als das Richtigere, wenn man bedenkt, wie es fast immer,
ausser der erblichen Disposition, noch weiterer Ursachen zum Ausbruch des Irre-
seins bedarf, wie daher die vorhandene Anlage, aus Mangel solcher weiterer
Momente, gerade bei den nächsten Anverwandten ruhend bleiben, ihr Vorhanden-
sein aber sich an nahen Seitenverwandten deutlich erweisen kann.

3) Man thut Recht, die Familienanlage zu Geisteskrankheiten nicht abgesondert
für sich allein, sondern als Anlage zu schweren Gehirn- und Nervenkrankheiten
überhaupt aufzufassen. Man sieht nicht ganz selten, dass in einer Familie ein-
zelne Mitglieder an Irresein, andere an Epilepsie, an schwerer Spinalirritation,
Hysterie, Neuralgieen und dergl. leiden. Rush z. B. +++) erzählt den Fall eines
Mechanikers, der 2mal Anfälle von Irresein hatte, wovon der letzte sein Leben
endigte. Alle seine 6 Kinder litten an Kopfweh, allein keines zeigte je eine Spur
von Verrücktheit.

4) Auch in denjenigen Fällen ist eine ursprüngliche anomale Disposition nicht
zu läugnen, wo die Eltern oder eines derselben zwar auch nicht an Irresein litten,
aber eine auffallende Ueberspanntheit oder Bizarrerie des Characters und der

*) Art. Jnsania. Berl. Wörterb. XVIII. p. 561.
**) Jahresbericht, Holschers Annalen. III. l. 1838. p. 487.
***) Hauptformen etc. p. 600.
+) Oppenheim, Zeitschrift. Bd. XXI. 1842. p. 16.
++) Julius, Beitr. z. britt. Irrenhlk. p. 281. ff.
+++) Medic. Unters. über d. Seelenkrankh., übers. v. König. Leipz. 1825. p. 36.
Griesinger, psych. Krankhin. 8

Erblichkeit des Irreseins.
etwa ⅗ der Fälle; Jessen *) nimmt sie zu ⅓ an; Bergmann **)
fand nach der kleineren Statistik eines Jahres directe Erblichkeit in ⅕,
directe und indirecte zusammen in ⅓ der Fälle. Dagegen wurde
von Jakobi ***) unter 220 Fällen (von Tobsucht) nur in etwa 1/9, dann
unter den Kranken von Bicêtre und der Salpetrière (8272 Fälle) nur
in 1/11, und von Lautard im Marseiller Irrenhaus nur in etwa 1/15
der Erkrankungen Erblichkeit constatirt. †)

Diese bedeutenden Differenzen mögen von dem Vorherrschen einzelner Um-
stände herrühren, die als überhaupt wichtige Punkte näher zu beachten sind.

1) Die angeborne Anlage ist da häufiger, wo die Heirathen immer unter
einem kleineren Kreise von Familien oder gar in den Familien selbst geschehen;
dagegen erlischt die Transmission eher bei fortgesetzter Kreuzung mit fremdem
Blut. Der erstere Umstand zeigt sich deutlich unter den höheren Ständen ein-
zelner Länder, auch unter der israelitischen Bevölkerung, besonders auffallend
unter den englischen Quäkern. In dem Irrenhause bei York, das für diese reli-
giöse Secte bestimmt ist, liess sich directe Erblichkeit bei ⅓ der Kranken,
indirecte (Geisteskrankheit von Seitenverwandten) bei einem weiteren Sechstheil,
also beides zusammen in der Hälfte der Fälle nachweisen. ††)

2) Es entstehen weitere bedeutende Differenzen der Angaben dadurch, dass
das einemal nur die Fälle gezählt wurden, wo die Eltern oder Grosseltern geistes-
krank waren, anderemal die Annahme einer Familienanlage auch auf das Irresein
der näheren Seitenverwandten (Oheime, blutsverwandten Vettern) sich gründete.
Das letztere erscheint als das Richtigere, wenn man bedenkt, wie es fast immer,
ausser der erblichen Disposition, noch weiterer Ursachen zum Ausbruch des Irre-
seins bedarf, wie daher die vorhandene Anlage, aus Mangel solcher weiterer
Momente, gerade bei den nächsten Anverwandten ruhend bleiben, ihr Vorhanden-
sein aber sich an nahen Seitenverwandten deutlich erweisen kann.

3) Man thut Recht, die Familienanlage zu Geisteskrankheiten nicht abgesondert
für sich allein, sondern als Anlage zu schweren Gehirn- und Nervenkrankheiten
überhaupt aufzufassen. Man sieht nicht ganz selten, dass in einer Familie ein-
zelne Mitglieder an Irresein, andere an Epilepsie, an schwerer Spinalirritation,
Hysterie, Neuralgieen und dergl. leiden. Rush z. B. †††) erzählt den Fall eines
Mechanikers, der 2mal Anfälle von Irresein hatte, wovon der letzte sein Leben
endigte. Alle seine 6 Kinder litten an Kopfweh, allein keines zeigte je eine Spur
von Verrücktheit.

4) Auch in denjenigen Fällen ist eine ursprüngliche anomale Disposition nicht
zu läugnen, wo die Eltern oder eines derselben zwar auch nicht an Irresein litten,
aber eine auffallende Ueberspanntheit oder Bizarrerie des Characters und der

*) Art. Jnsania. Berl. Wörterb. XVIII. p. 561.
**) Jahresbericht, Holschers Annalen. III. l. 1838. p. 487.
***) Hauptformen etc. p. 600.
†) Oppenheim, Zeitschrift. Bd. XXI. 1842. p. 16.
††) Julius, Beitr. z. britt. Irrenhlk. p. 281. ff.
†††) Medic. Unters. über d. Seelenkrankh., übers. v. König. Leipz. 1825. p. 36.
Griesinger, psych. Krankhin. 8
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[113/0127] Erblichkeit des Irreseins. etwa ⅗ der Fälle; Jessen *) nimmt sie zu ⅓ an; Bergmann **) fand nach der kleineren Statistik eines Jahres directe Erblichkeit in ⅕, directe und indirecte zusammen in ⅓ der Fälle. Dagegen wurde von Jakobi ***) unter 220 Fällen (von Tobsucht) nur in etwa 1/9, dann unter den Kranken von Bicêtre und der Salpetrière (8272 Fälle) nur in 1/11, und von Lautard im Marseiller Irrenhaus nur in etwa 1/15 der Erkrankungen Erblichkeit constatirt. †) Diese bedeutenden Differenzen mögen von dem Vorherrschen einzelner Um- stände herrühren, die als überhaupt wichtige Punkte näher zu beachten sind. 1) Die angeborne Anlage ist da häufiger, wo die Heirathen immer unter einem kleineren Kreise von Familien oder gar in den Familien selbst geschehen; dagegen erlischt die Transmission eher bei fortgesetzter Kreuzung mit fremdem Blut. Der erstere Umstand zeigt sich deutlich unter den höheren Ständen ein- zelner Länder, auch unter der israelitischen Bevölkerung, besonders auffallend unter den englischen Quäkern. In dem Irrenhause bei York, das für diese reli- giöse Secte bestimmt ist, liess sich directe Erblichkeit bei ⅓ der Kranken, indirecte (Geisteskrankheit von Seitenverwandten) bei einem weiteren Sechstheil, also beides zusammen in der Hälfte der Fälle nachweisen. ††) 2) Es entstehen weitere bedeutende Differenzen der Angaben dadurch, dass das einemal nur die Fälle gezählt wurden, wo die Eltern oder Grosseltern geistes- krank waren, anderemal die Annahme einer Familienanlage auch auf das Irresein der näheren Seitenverwandten (Oheime, blutsverwandten Vettern) sich gründete. Das letztere erscheint als das Richtigere, wenn man bedenkt, wie es fast immer, ausser der erblichen Disposition, noch weiterer Ursachen zum Ausbruch des Irre- seins bedarf, wie daher die vorhandene Anlage, aus Mangel solcher weiterer Momente, gerade bei den nächsten Anverwandten ruhend bleiben, ihr Vorhanden- sein aber sich an nahen Seitenverwandten deutlich erweisen kann. 3) Man thut Recht, die Familienanlage zu Geisteskrankheiten nicht abgesondert für sich allein, sondern als Anlage zu schweren Gehirn- und Nervenkrankheiten überhaupt aufzufassen. Man sieht nicht ganz selten, dass in einer Familie ein- zelne Mitglieder an Irresein, andere an Epilepsie, an schwerer Spinalirritation, Hysterie, Neuralgieen und dergl. leiden. Rush z. B. †††) erzählt den Fall eines Mechanikers, der 2mal Anfälle von Irresein hatte, wovon der letzte sein Leben endigte. Alle seine 6 Kinder litten an Kopfweh, allein keines zeigte je eine Spur von Verrücktheit. 4) Auch in denjenigen Fällen ist eine ursprüngliche anomale Disposition nicht zu läugnen, wo die Eltern oder eines derselben zwar auch nicht an Irresein litten, aber eine auffallende Ueberspanntheit oder Bizarrerie des Characters und der *) Art. Jnsania. Berl. Wörterb. XVIII. p. 561. **) Jahresbericht, Holschers Annalen. III. l. 1838. p. 487. ***) Hauptformen etc. p. 600. †) Oppenheim, Zeitschrift. Bd. XXI. 1842. p. 16. ††) Julius, Beitr. z. britt. Irrenhlk. p. 281. ff. †††) Medic. Unters. über d. Seelenkrankh., übers. v. König. Leipz. 1825. p. 36. Griesinger, psych. Krankhin. 8

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/127>, abgerufen am 09.11.2024.