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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Niedergangsliteratur

dergrund. Dem Gleiten ins Niedere -- das rein Tierische dürfen wir hier Wohl
so bezeichnen -- aber muß im Interesse beider ein Halt geboten werden; es könnte
sonst in unseren Literaten, die Strindberg z. B. weder an Tiefe noch Gestaltungs¬
kraft irgendwie erreichen, einst am Ende ihres Schaffens ein noch bitteres Gefühl
aufsteigen, das eben diesen in seiner "Lebensgeschichte" bekennen ließ: "Ich bin
jetzt völlig bankerott," indem er erkannte, daß "dieser Katarakt von Freisprechun¬
gen -- den er in die Literatur einführte --, und zwar von allen moralischen
Verpflichtungen, der durch die Literatur über die Gesellschaft strömte, alles zer¬
setzt hat: Familie, Sitte, Ehre, Glauben." Es ist auch nicht ganz unrecht und
gibt ein Körnchen schlimmer Wahrheit, wenn er an anderer Stelle gesteht: "Die
Zeit ist da! Die Weiber wollen oder können nicht mehr gesunde Kinder gebären!
Die Weiber, die zu Müttern bestimmt wären, die vertrauern ihr Dasein als alte
Jungfern; die Hure wird geheiratet, beherrscht unser häusliches und öffentliches
Leben . . . und ist der Untergang der Völker und Staaten." Mit dieser letzten
Feststellung befindet sich Strindberg vollständig im Einklang mit unserer Auf¬
fassung, die auch die unbefangene Wissenschaft teilt (vgl. z. V. Liepmann S. 204).

Bonsels und seine Mitgestalter sind zu verstehen: sie sind vollständige
Gegenwartsmenschen mit ihrer Fülle innerer Widersprüche und sind -- Bücher¬
schreiber, die natürlich Erfolg haben wollen. Voll innerer Widersprüche: ein
Taumel zwischen den Religionen, den Philosophien, den Kunstanschauungen, ohne
klaren Lebensinhalt; denn das Denken Bonselsscher Figuren pendelt zwischen
tiefsinnig scheinender Mystik und nacktester Realistik, zwischen buddhistischer
Weltvergessenheit, übersehender splenciiä Isolation, gequälten Übermenschengebah¬
ren und zügelloser Sinnlichkeit hin und her; sie sind Zwischenerscheinungen,
Zwischenmenschen einer in allen wesentlichen Dingen kranken Zeit, Zwitterwesen,
die zwischen allen Hauptwerken des Lebens und allen Lebensstilen stehen. Sie
sind darin Kiuder unserer Zeit, ohne innere Grundlage, klaren Weg und festes
Ziel; sie lassen sich treiben und gleiten; sie lassen sich führen, aber sie führen nicht
und vermögen daher auch uicht andere zu führen. -- Ob und wieweit Bonsels und
Leute seines Schlages tüchtige Buchschreiber sind, will und mag ich einstweilen
nicht weiter beurteilen. Das aber steht fest: ihre Bücher treffen unsere Zeit und
wissen sie zu nehmen in all ihrer grenzenlosen Zerfahrenheit, ihrem Drange nach
Auflösung und Zerstörung, nach Sinnenrausch. Sie sind Bücher der Zeit und
werden mit ihr vergehen und mit ihr vergessen sein. Was wir brauchen, sind
große Meister, deutsche Meister, strenge Meister. Ihnen sind sie himmelfern,
wenn sie auch manches Äußerliche von ihnen angenommen haben, ihrem wahren
Geiste aber stehen sie endlos fern.




Niedergangsliteratur

dergrund. Dem Gleiten ins Niedere — das rein Tierische dürfen wir hier Wohl
so bezeichnen — aber muß im Interesse beider ein Halt geboten werden; es könnte
sonst in unseren Literaten, die Strindberg z. B. weder an Tiefe noch Gestaltungs¬
kraft irgendwie erreichen, einst am Ende ihres Schaffens ein noch bitteres Gefühl
aufsteigen, das eben diesen in seiner „Lebensgeschichte" bekennen ließ: „Ich bin
jetzt völlig bankerott," indem er erkannte, daß „dieser Katarakt von Freisprechun¬
gen — den er in die Literatur einführte —, und zwar von allen moralischen
Verpflichtungen, der durch die Literatur über die Gesellschaft strömte, alles zer¬
setzt hat: Familie, Sitte, Ehre, Glauben." Es ist auch nicht ganz unrecht und
gibt ein Körnchen schlimmer Wahrheit, wenn er an anderer Stelle gesteht: „Die
Zeit ist da! Die Weiber wollen oder können nicht mehr gesunde Kinder gebären!
Die Weiber, die zu Müttern bestimmt wären, die vertrauern ihr Dasein als alte
Jungfern; die Hure wird geheiratet, beherrscht unser häusliches und öffentliches
Leben . . . und ist der Untergang der Völker und Staaten." Mit dieser letzten
Feststellung befindet sich Strindberg vollständig im Einklang mit unserer Auf¬
fassung, die auch die unbefangene Wissenschaft teilt (vgl. z. V. Liepmann S. 204).

Bonsels und seine Mitgestalter sind zu verstehen: sie sind vollständige
Gegenwartsmenschen mit ihrer Fülle innerer Widersprüche und sind — Bücher¬
schreiber, die natürlich Erfolg haben wollen. Voll innerer Widersprüche: ein
Taumel zwischen den Religionen, den Philosophien, den Kunstanschauungen, ohne
klaren Lebensinhalt; denn das Denken Bonselsscher Figuren pendelt zwischen
tiefsinnig scheinender Mystik und nacktester Realistik, zwischen buddhistischer
Weltvergessenheit, übersehender splenciiä Isolation, gequälten Übermenschengebah¬
ren und zügelloser Sinnlichkeit hin und her; sie sind Zwischenerscheinungen,
Zwischenmenschen einer in allen wesentlichen Dingen kranken Zeit, Zwitterwesen,
die zwischen allen Hauptwerken des Lebens und allen Lebensstilen stehen. Sie
sind darin Kiuder unserer Zeit, ohne innere Grundlage, klaren Weg und festes
Ziel; sie lassen sich treiben und gleiten; sie lassen sich führen, aber sie führen nicht
und vermögen daher auch uicht andere zu führen. — Ob und wieweit Bonsels und
Leute seines Schlages tüchtige Buchschreiber sind, will und mag ich einstweilen
nicht weiter beurteilen. Das aber steht fest: ihre Bücher treffen unsere Zeit und
wissen sie zu nehmen in all ihrer grenzenlosen Zerfahrenheit, ihrem Drange nach
Auflösung und Zerstörung, nach Sinnenrausch. Sie sind Bücher der Zeit und
werden mit ihr vergehen und mit ihr vergessen sein. Was wir brauchen, sind
große Meister, deutsche Meister, strenge Meister. Ihnen sind sie himmelfern,
wenn sie auch manches Äußerliche von ihnen angenommen haben, ihrem wahren
Geiste aber stehen sie endlos fern.




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[0130] Niedergangsliteratur dergrund. Dem Gleiten ins Niedere — das rein Tierische dürfen wir hier Wohl so bezeichnen — aber muß im Interesse beider ein Halt geboten werden; es könnte sonst in unseren Literaten, die Strindberg z. B. weder an Tiefe noch Gestaltungs¬ kraft irgendwie erreichen, einst am Ende ihres Schaffens ein noch bitteres Gefühl aufsteigen, das eben diesen in seiner „Lebensgeschichte" bekennen ließ: „Ich bin jetzt völlig bankerott," indem er erkannte, daß „dieser Katarakt von Freisprechun¬ gen — den er in die Literatur einführte —, und zwar von allen moralischen Verpflichtungen, der durch die Literatur über die Gesellschaft strömte, alles zer¬ setzt hat: Familie, Sitte, Ehre, Glauben." Es ist auch nicht ganz unrecht und gibt ein Körnchen schlimmer Wahrheit, wenn er an anderer Stelle gesteht: „Die Zeit ist da! Die Weiber wollen oder können nicht mehr gesunde Kinder gebären! Die Weiber, die zu Müttern bestimmt wären, die vertrauern ihr Dasein als alte Jungfern; die Hure wird geheiratet, beherrscht unser häusliches und öffentliches Leben . . . und ist der Untergang der Völker und Staaten." Mit dieser letzten Feststellung befindet sich Strindberg vollständig im Einklang mit unserer Auf¬ fassung, die auch die unbefangene Wissenschaft teilt (vgl. z. V. Liepmann S. 204). Bonsels und seine Mitgestalter sind zu verstehen: sie sind vollständige Gegenwartsmenschen mit ihrer Fülle innerer Widersprüche und sind — Bücher¬ schreiber, die natürlich Erfolg haben wollen. Voll innerer Widersprüche: ein Taumel zwischen den Religionen, den Philosophien, den Kunstanschauungen, ohne klaren Lebensinhalt; denn das Denken Bonselsscher Figuren pendelt zwischen tiefsinnig scheinender Mystik und nacktester Realistik, zwischen buddhistischer Weltvergessenheit, übersehender splenciiä Isolation, gequälten Übermenschengebah¬ ren und zügelloser Sinnlichkeit hin und her; sie sind Zwischenerscheinungen, Zwischenmenschen einer in allen wesentlichen Dingen kranken Zeit, Zwitterwesen, die zwischen allen Hauptwerken des Lebens und allen Lebensstilen stehen. Sie sind darin Kiuder unserer Zeit, ohne innere Grundlage, klaren Weg und festes Ziel; sie lassen sich treiben und gleiten; sie lassen sich führen, aber sie führen nicht und vermögen daher auch uicht andere zu führen. — Ob und wieweit Bonsels und Leute seines Schlages tüchtige Buchschreiber sind, will und mag ich einstweilen nicht weiter beurteilen. Das aber steht fest: ihre Bücher treffen unsere Zeit und wissen sie zu nehmen in all ihrer grenzenlosen Zerfahrenheit, ihrem Drange nach Auflösung und Zerstörung, nach Sinnenrausch. Sie sind Bücher der Zeit und werden mit ihr vergehen und mit ihr vergessen sein. Was wir brauchen, sind große Meister, deutsche Meister, strenge Meister. Ihnen sind sie himmelfern, wenn sie auch manches Äußerliche von ihnen angenommen haben, ihrem wahren Geiste aber stehen sie endlos fern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/130>, abgerufen am 19.10.2024.