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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Die Politik der Entente in den Jahren z°og bis 195h

haben, mußte England die Entente mit Frankreich und Nußland eingehen und
diese beiden Staaten durch Unterstützung ihrer Politik festhalten. Damit trat der
Krieg auch für England in drohende Nähe. Seine Staatsmänner fürchteten ihn
ebensowenig wie die russischen und die französischen, aber sie fühlten sich durch
Rücksichten auf die öffentliche Meinung gebunden und stellten immer wieder vor
Augen, daß der Anlaß gut gewählt sein müsse. Als sie ihn 1914 hatten, zögerten
sie telum Augenblick.

Für diese Politik ist es keine Entschuldigung, daß sie sich durch Deutschland
bedroht gefühlt hätte. An die Gefahr einer deutschen Hegemonie, von der
Hardinge 1908 gesprochen hatte, glaubte Grey schon im Februar 1909 nicht mehr
(Seite 728), und die Friedlichkeit der deutschen Politik ist in den ganzen Jahren
vor dem Kriege von den Staatsmännern der Entente nicht bezweifelt worden.
Und daß der Kaiser kein gefährlicher Gegner war, das wußten sie auch. Als es
Ende 1908 nach der Daily-Telegraph-Angelegenheit schien, als werde die
persönliche Politik des Kaisers ausgeschaltet werden, meinte Benckendorff, daß die
deutsche Politik damit gefährlicher, weil erfolgreicher werde.

Wohl aber ist sich die Entente darüber klar gewesen, daß sie durch die
Einkreisung Deutschlands den Frieden bedrohte. Mehrmals, 1909 und 1912,
hat Grey zugegeben, daß die Isolierung Deutschlands eine tatsächliche Gefahr für
den Frieden bedeute. Denn ein Recht zu leben und sich wirtschaftlich zu betätigen,
konnte ja auch dem deutschen Volke nicht grundsätzlich bestritten werden. Gelegentlich
fand es darum wenigstens die englische Politik ratsam, ein Ventil für Deutschland
zu öffnen. Das tropische Afrika wollte man uns gütigst überlassen. Aber auf
diese Verständigungsverhandlungen, die im Sommer 1914 ihrem Abschluß nahe
waren, fällt doch ein eigentümliches Licht durch die Tatsache, daß gleichzeitig der
Ring der Einkreisung durch die englisch-russische Marinekonvention fest zusammen"
geschmiedet wurde. Der Beweis, daß England uns den nötigen Lebensraum
gewähren wollte, ist noch lange nicht erbracht.

So bleiben manche Rätsel, die uns die Vorgeschichte des Krieges aufgibt,
einstweilen noch ungelöst, und der vorsichtig abwägende Historiker zweifelt über¬
haupt an der Möglichkeit, alle Fragen mit der Entschiedenheit zu beantworten,
die dem Politiker für die Zumessung einer Schuld und für das Aussprechen eines
moralischen Urteils erwünscht sein mag. Trotzdem ist uns jede neue Mitteilung
wertvoll, die es uns erlaubt, die großen Zusammenhänge zu erkennen, innerhalb
.deren die deutsche Politik in den Jahren vor dein Kriege gestanden hat und aus
denen allein sie verstanden werden kann.




Die Politik der Entente in den Jahren z°og bis 195h

haben, mußte England die Entente mit Frankreich und Nußland eingehen und
diese beiden Staaten durch Unterstützung ihrer Politik festhalten. Damit trat der
Krieg auch für England in drohende Nähe. Seine Staatsmänner fürchteten ihn
ebensowenig wie die russischen und die französischen, aber sie fühlten sich durch
Rücksichten auf die öffentliche Meinung gebunden und stellten immer wieder vor
Augen, daß der Anlaß gut gewählt sein müsse. Als sie ihn 1914 hatten, zögerten
sie telum Augenblick.

Für diese Politik ist es keine Entschuldigung, daß sie sich durch Deutschland
bedroht gefühlt hätte. An die Gefahr einer deutschen Hegemonie, von der
Hardinge 1908 gesprochen hatte, glaubte Grey schon im Februar 1909 nicht mehr
(Seite 728), und die Friedlichkeit der deutschen Politik ist in den ganzen Jahren
vor dem Kriege von den Staatsmännern der Entente nicht bezweifelt worden.
Und daß der Kaiser kein gefährlicher Gegner war, das wußten sie auch. Als es
Ende 1908 nach der Daily-Telegraph-Angelegenheit schien, als werde die
persönliche Politik des Kaisers ausgeschaltet werden, meinte Benckendorff, daß die
deutsche Politik damit gefährlicher, weil erfolgreicher werde.

Wohl aber ist sich die Entente darüber klar gewesen, daß sie durch die
Einkreisung Deutschlands den Frieden bedrohte. Mehrmals, 1909 und 1912,
hat Grey zugegeben, daß die Isolierung Deutschlands eine tatsächliche Gefahr für
den Frieden bedeute. Denn ein Recht zu leben und sich wirtschaftlich zu betätigen,
konnte ja auch dem deutschen Volke nicht grundsätzlich bestritten werden. Gelegentlich
fand es darum wenigstens die englische Politik ratsam, ein Ventil für Deutschland
zu öffnen. Das tropische Afrika wollte man uns gütigst überlassen. Aber auf
diese Verständigungsverhandlungen, die im Sommer 1914 ihrem Abschluß nahe
waren, fällt doch ein eigentümliches Licht durch die Tatsache, daß gleichzeitig der
Ring der Einkreisung durch die englisch-russische Marinekonvention fest zusammen»
geschmiedet wurde. Der Beweis, daß England uns den nötigen Lebensraum
gewähren wollte, ist noch lange nicht erbracht.

So bleiben manche Rätsel, die uns die Vorgeschichte des Krieges aufgibt,
einstweilen noch ungelöst, und der vorsichtig abwägende Historiker zweifelt über¬
haupt an der Möglichkeit, alle Fragen mit der Entschiedenheit zu beantworten,
die dem Politiker für die Zumessung einer Schuld und für das Aussprechen eines
moralischen Urteils erwünscht sein mag. Trotzdem ist uns jede neue Mitteilung
wertvoll, die es uns erlaubt, die großen Zusammenhänge zu erkennen, innerhalb
.deren die deutsche Politik in den Jahren vor dein Kriege gestanden hat und aus
denen allein sie verstanden werden kann.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/313>, abgerufen am 24.07.2024.