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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Die klagende Wissenschaft

wie gerade unser wertvollster geistiger Nachwuchs eingeht. Aber die erschütterndste
aller seiner Zahlen ist doch die folgende, Hie ich allein hier dem Nachdenken des
Lesers unterbreiten will. Wildhagen berechnet den Gesamtbetrag, den die
deutsche Wissenschaft brauchen würde, Institute, Bibliotheken,
wissenschaftliche Belange der Krankenhäuser, Unterstützung des Personals und
der Veröffentlichungen der gelehrten Welt Deutschlands alles zusammen auf
80 Millionen heutiger Mark, davon 25 dauernd. Diese Schätzung ist
wohl etwas niedrig; ich würde das Doppelte einsetzen. Aber auch dann noch:

Wen beschämt eigentlich diese Zahl?

Ich denke doch ausschließlich uns selber: Jeder der zahllosen Ententekommissare,
die in Deutschland umHerreisen, kostet uns mindestens eine halbe Million jährlich.
Mit etwa dem Aufwand von 200 dieser Kommissare oder von zwei "unserer" kost¬
baren Marokkanerregimenter würde die ganze ach so bescheidene wissenschaftliche
Welt Deutschlands wieder lebensfähig semit

Soll man den Klingelbeutel bei den Ausländern und den deutschen Privaten
umhergehen lassen, nicht um neue wissenschaftliche Aufgaben zu fördern, was
höchst verdienstvoll, sondern nur, um die "Teuerung" zu bezahlen? Hat das
deutsche Reich dieses bloße "Valuta>Almosen" an seine und der Menschheit Zukunft
nicht mehr übrig, da doch jeder Handarbeiter die Valutalohnsteigerung erhalten hat?

Man stelle doch diese 80 oder 160 Millionen in den Etat ein. Es ist nicht
wahrscheinlich, daß der Oberste Rat gerade diesen Posten beanstanden wird. Und
wenn, dann lasse man ihm die Verantwortung, die beschämende Barbarei! Hat
die Reichsregierung diese Summe nicht für die Wissenschaft zur Verfügung, oder
wagt sie nicht, sie einzusetzen, dann streiche sie doch die Phrase von den deutschen
Kulturaufgaben für die Menschheit aus ihrem Programm!

Macht es nichteinen erbärmlichen Eindruck, daß wir der Welt vorjammern:
die Berliner Bibliothek kann sich nur noch ISO ausländische Zeitschriften halten,
statt 2300 vor dem Krieg? Wird irgend jemand in der Welt diese Selbstblockade
für aufrichtig halten?

Wenn das wissenschaftliche Gehirn der Welt in Gefahr ist, einzuschrumpfen,
so ist daran nicht die Welt schuld, nicht der Sieger, was immer er sonst auf dem
Kerbholz hat, sondern einzig und allein die Tatsache, daß die verantwortlichen
Organe der deutschen Republik augenscheinlich für die Funktionen eines Gehirns
kein genügendes Verständnis haben und nicht wissen, daß in den lebenden Orga¬
nismen, falls Hungersgefahr sie befällt, alle andern Organe darben, um das Ge¬
hirn möglichst unverändert zu speisen, und daß in der gesamten Welt gehirn-
begabter Tiere das Gehirn es ist, welches als letztes Organ verhungern darf.
Wenn die Republik aber so einsichtslos ist, dann wundere man sich nicht, daß die
Wissenschaft "reaktionär" ist.

Niemand gilt gern für rückständig oder bildungsfremd. Lieber heißt es:
die Wissenschaft ist nicht Reichssache. Doch ja, im Augenblick, da der Reichsfinanz,
minister die Finanzminister der Länder entmündigt, ist auch die Verant¬
wortung für die Wissenschaft Reichssache geworden.




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Die klagende Wissenschaft

wie gerade unser wertvollster geistiger Nachwuchs eingeht. Aber die erschütterndste
aller seiner Zahlen ist doch die folgende, Hie ich allein hier dem Nachdenken des
Lesers unterbreiten will. Wildhagen berechnet den Gesamtbetrag, den die
deutsche Wissenschaft brauchen würde, Institute, Bibliotheken,
wissenschaftliche Belange der Krankenhäuser, Unterstützung des Personals und
der Veröffentlichungen der gelehrten Welt Deutschlands alles zusammen auf
80 Millionen heutiger Mark, davon 25 dauernd. Diese Schätzung ist
wohl etwas niedrig; ich würde das Doppelte einsetzen. Aber auch dann noch:

Wen beschämt eigentlich diese Zahl?

Ich denke doch ausschließlich uns selber: Jeder der zahllosen Ententekommissare,
die in Deutschland umHerreisen, kostet uns mindestens eine halbe Million jährlich.
Mit etwa dem Aufwand von 200 dieser Kommissare oder von zwei „unserer" kost¬
baren Marokkanerregimenter würde die ganze ach so bescheidene wissenschaftliche
Welt Deutschlands wieder lebensfähig semit

Soll man den Klingelbeutel bei den Ausländern und den deutschen Privaten
umhergehen lassen, nicht um neue wissenschaftliche Aufgaben zu fördern, was
höchst verdienstvoll, sondern nur, um die „Teuerung" zu bezahlen? Hat das
deutsche Reich dieses bloße „Valuta>Almosen" an seine und der Menschheit Zukunft
nicht mehr übrig, da doch jeder Handarbeiter die Valutalohnsteigerung erhalten hat?

Man stelle doch diese 80 oder 160 Millionen in den Etat ein. Es ist nicht
wahrscheinlich, daß der Oberste Rat gerade diesen Posten beanstanden wird. Und
wenn, dann lasse man ihm die Verantwortung, die beschämende Barbarei! Hat
die Reichsregierung diese Summe nicht für die Wissenschaft zur Verfügung, oder
wagt sie nicht, sie einzusetzen, dann streiche sie doch die Phrase von den deutschen
Kulturaufgaben für die Menschheit aus ihrem Programm!

Macht es nichteinen erbärmlichen Eindruck, daß wir der Welt vorjammern:
die Berliner Bibliothek kann sich nur noch ISO ausländische Zeitschriften halten,
statt 2300 vor dem Krieg? Wird irgend jemand in der Welt diese Selbstblockade
für aufrichtig halten?

Wenn das wissenschaftliche Gehirn der Welt in Gefahr ist, einzuschrumpfen,
so ist daran nicht die Welt schuld, nicht der Sieger, was immer er sonst auf dem
Kerbholz hat, sondern einzig und allein die Tatsache, daß die verantwortlichen
Organe der deutschen Republik augenscheinlich für die Funktionen eines Gehirns
kein genügendes Verständnis haben und nicht wissen, daß in den lebenden Orga¬
nismen, falls Hungersgefahr sie befällt, alle andern Organe darben, um das Ge¬
hirn möglichst unverändert zu speisen, und daß in der gesamten Welt gehirn-
begabter Tiere das Gehirn es ist, welches als letztes Organ verhungern darf.
Wenn die Republik aber so einsichtslos ist, dann wundere man sich nicht, daß die
Wissenschaft „reaktionär" ist.

Niemand gilt gern für rückständig oder bildungsfremd. Lieber heißt es:
die Wissenschaft ist nicht Reichssache. Doch ja, im Augenblick, da der Reichsfinanz,
minister die Finanzminister der Länder entmündigt, ist auch die Verant¬
wortung für die Wissenschaft Reichssache geworden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/225>, abgerufen am 04.07.2024.