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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Das angebliche Bündnisangebot Englands von 1,895

Wenn der Kaiser von einem Vorspiel der Teilung gesprochen hat, so wird
man höchstens von einem Vorspiele des Vorspieles reden dürfen. Man müßte nicht
nur den Augenblick von 1895, sondern die ganze Orientpolitik Salisburys genauer
kennen, um seinen Schachzug durch richtige Einordnung einzuschätzen. Für eine
Falle, an die man zunächst denken könnte, wäre er doch zu plump. Was Salis-
bury nicht gewollt haben kann, tritt jetzt deutlich hervor. Was er eigentlich ge¬
gewollt hat, wird sich erst nach Durchforschung der englischen Quellen*) jener
Jahre ermitteln lassen.

Weit aufschlußreicher ist die Episode für die deutsche Politik. Wer sie
kritisiert, wird von dem Urteil der Gegenwart über die wilhelminische Orient-
Politik absehen müssen. Nur danach haben wir zu fragen, ob die Aufnahme der
englischen Vorschläge durch das Auswärtige Amt und Wilhelm II. den Zielen der
kaiserlichen Politik entsprochen hat. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand
findet, der das im Ernst zu bejahen wagt. Einem Schachzug gegenüber, der ein
Rätsel aufgibt, ist weder Entrüstung noch stachlige Abwehr am Platz. Statt sich
als Beschützer vor die Türkei zu stellen, hätte es vollkommen genügt, daran zu
erinnern, daß die Erhaltung der Türkei ein wesentliches Unterpfand des europäischen
Friedens sei. Die Frage nach den deutschen Wünschen wäre besser durch die
Gegenfrage nach den englischen Wünschen beantwortet worden. Aus der Erörterung
der voraussichtlichen Stellungnahme Frankreichs und Rußlands hätte ein echter
Erbe Bismarcks erkennen können, ob England bereits mit der Entente in Ver¬
handlungen stand. Ohne dem Engländer auch nur den kleinen Finger zu reichen,
hätte man ihn an seinen eigenen Vorschlägen festhalten können, um hinter
das Geheimnis seiner Politik zu kommen. Man denke an Bismarck in dieser Lage,
um zu ermessen, wieweit seine Nachfolger hinter der Erkenntnis zurückgeblieben
sind, daß der Kluge durch Klugheit nie verletzt werden kann. Ein ebenbürtiger
Partner würde Salisbury vielleicht dazu verführt haben, sich auf dem Schachbrett
weiter vorzuwagen. Wilhelm II. gab sich selbst die Blöße, die er vorschnell an
dem Leiter der englischen Politik zu gewahren glaubte. Nicht er, sondern Salis-
bury hat das Gespräch in Wahrheit abgebrochen. Nicht in dem, was verhandelt
worden war, sondern in den Folgen auf deutscher Seite liegt die Bedeutung
der Unterredung von Cowes.

Nachtrag.

Unter der Korrektur erhalte ich den dritten Band Eckardsteins. In Chirols
Artikel, den er auszugsweise (Seite 11--16) mitteilt, sieht er Ergänzungen seiner
Enthüllungen, übersieht also, daß seine Behauptung eines englischen Bündnis¬
angebotes durch Chirol widerlegt wird. Dagegen spricht auch O. Hammanns
neueste Mitteilung (Der mißverstandene Bismarck, Seite 44), daß Salisbury
vor Cowes HatFeldt gesagt habe, "er wäre bereit, Rußland einen reichlichen Teil
an der türkischen Verlassenschaft zu gewähren."





*) Salisburys Tochter Lady Gwendolin Cecil hat eine zweibändige Biographie an¬
gekündigt, die hoffentlich inhaltreicher ist, als der Durchschnitt dieser "llks sua letters"-
Lebensläufe.
Das angebliche Bündnisangebot Englands von 1,895

Wenn der Kaiser von einem Vorspiel der Teilung gesprochen hat, so wird
man höchstens von einem Vorspiele des Vorspieles reden dürfen. Man müßte nicht
nur den Augenblick von 1895, sondern die ganze Orientpolitik Salisburys genauer
kennen, um seinen Schachzug durch richtige Einordnung einzuschätzen. Für eine
Falle, an die man zunächst denken könnte, wäre er doch zu plump. Was Salis-
bury nicht gewollt haben kann, tritt jetzt deutlich hervor. Was er eigentlich ge¬
gewollt hat, wird sich erst nach Durchforschung der englischen Quellen*) jener
Jahre ermitteln lassen.

Weit aufschlußreicher ist die Episode für die deutsche Politik. Wer sie
kritisiert, wird von dem Urteil der Gegenwart über die wilhelminische Orient-
Politik absehen müssen. Nur danach haben wir zu fragen, ob die Aufnahme der
englischen Vorschläge durch das Auswärtige Amt und Wilhelm II. den Zielen der
kaiserlichen Politik entsprochen hat. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand
findet, der das im Ernst zu bejahen wagt. Einem Schachzug gegenüber, der ein
Rätsel aufgibt, ist weder Entrüstung noch stachlige Abwehr am Platz. Statt sich
als Beschützer vor die Türkei zu stellen, hätte es vollkommen genügt, daran zu
erinnern, daß die Erhaltung der Türkei ein wesentliches Unterpfand des europäischen
Friedens sei. Die Frage nach den deutschen Wünschen wäre besser durch die
Gegenfrage nach den englischen Wünschen beantwortet worden. Aus der Erörterung
der voraussichtlichen Stellungnahme Frankreichs und Rußlands hätte ein echter
Erbe Bismarcks erkennen können, ob England bereits mit der Entente in Ver¬
handlungen stand. Ohne dem Engländer auch nur den kleinen Finger zu reichen,
hätte man ihn an seinen eigenen Vorschlägen festhalten können, um hinter
das Geheimnis seiner Politik zu kommen. Man denke an Bismarck in dieser Lage,
um zu ermessen, wieweit seine Nachfolger hinter der Erkenntnis zurückgeblieben
sind, daß der Kluge durch Klugheit nie verletzt werden kann. Ein ebenbürtiger
Partner würde Salisbury vielleicht dazu verführt haben, sich auf dem Schachbrett
weiter vorzuwagen. Wilhelm II. gab sich selbst die Blöße, die er vorschnell an
dem Leiter der englischen Politik zu gewahren glaubte. Nicht er, sondern Salis-
bury hat das Gespräch in Wahrheit abgebrochen. Nicht in dem, was verhandelt
worden war, sondern in den Folgen auf deutscher Seite liegt die Bedeutung
der Unterredung von Cowes.

Nachtrag.

Unter der Korrektur erhalte ich den dritten Band Eckardsteins. In Chirols
Artikel, den er auszugsweise (Seite 11—16) mitteilt, sieht er Ergänzungen seiner
Enthüllungen, übersieht also, daß seine Behauptung eines englischen Bündnis¬
angebotes durch Chirol widerlegt wird. Dagegen spricht auch O. Hammanns
neueste Mitteilung (Der mißverstandene Bismarck, Seite 44), daß Salisbury
vor Cowes HatFeldt gesagt habe, „er wäre bereit, Rußland einen reichlichen Teil
an der türkischen Verlassenschaft zu gewähren."





*) Salisburys Tochter Lady Gwendolin Cecil hat eine zweibändige Biographie an¬
gekündigt, die hoffentlich inhaltreicher ist, als der Durchschnitt dieser «llks sua letters"-
Lebensläufe.
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[0189] Das angebliche Bündnisangebot Englands von 1,895 Wenn der Kaiser von einem Vorspiel der Teilung gesprochen hat, so wird man höchstens von einem Vorspiele des Vorspieles reden dürfen. Man müßte nicht nur den Augenblick von 1895, sondern die ganze Orientpolitik Salisburys genauer kennen, um seinen Schachzug durch richtige Einordnung einzuschätzen. Für eine Falle, an die man zunächst denken könnte, wäre er doch zu plump. Was Salis- bury nicht gewollt haben kann, tritt jetzt deutlich hervor. Was er eigentlich ge¬ gewollt hat, wird sich erst nach Durchforschung der englischen Quellen*) jener Jahre ermitteln lassen. Weit aufschlußreicher ist die Episode für die deutsche Politik. Wer sie kritisiert, wird von dem Urteil der Gegenwart über die wilhelminische Orient- Politik absehen müssen. Nur danach haben wir zu fragen, ob die Aufnahme der englischen Vorschläge durch das Auswärtige Amt und Wilhelm II. den Zielen der kaiserlichen Politik entsprochen hat. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand findet, der das im Ernst zu bejahen wagt. Einem Schachzug gegenüber, der ein Rätsel aufgibt, ist weder Entrüstung noch stachlige Abwehr am Platz. Statt sich als Beschützer vor die Türkei zu stellen, hätte es vollkommen genügt, daran zu erinnern, daß die Erhaltung der Türkei ein wesentliches Unterpfand des europäischen Friedens sei. Die Frage nach den deutschen Wünschen wäre besser durch die Gegenfrage nach den englischen Wünschen beantwortet worden. Aus der Erörterung der voraussichtlichen Stellungnahme Frankreichs und Rußlands hätte ein echter Erbe Bismarcks erkennen können, ob England bereits mit der Entente in Ver¬ handlungen stand. Ohne dem Engländer auch nur den kleinen Finger zu reichen, hätte man ihn an seinen eigenen Vorschlägen festhalten können, um hinter das Geheimnis seiner Politik zu kommen. Man denke an Bismarck in dieser Lage, um zu ermessen, wieweit seine Nachfolger hinter der Erkenntnis zurückgeblieben sind, daß der Kluge durch Klugheit nie verletzt werden kann. Ein ebenbürtiger Partner würde Salisbury vielleicht dazu verführt haben, sich auf dem Schachbrett weiter vorzuwagen. Wilhelm II. gab sich selbst die Blöße, die er vorschnell an dem Leiter der englischen Politik zu gewahren glaubte. Nicht er, sondern Salis- bury hat das Gespräch in Wahrheit abgebrochen. Nicht in dem, was verhandelt worden war, sondern in den Folgen auf deutscher Seite liegt die Bedeutung der Unterredung von Cowes. Nachtrag. Unter der Korrektur erhalte ich den dritten Band Eckardsteins. In Chirols Artikel, den er auszugsweise (Seite 11—16) mitteilt, sieht er Ergänzungen seiner Enthüllungen, übersieht also, daß seine Behauptung eines englischen Bündnis¬ angebotes durch Chirol widerlegt wird. Dagegen spricht auch O. Hammanns neueste Mitteilung (Der mißverstandene Bismarck, Seite 44), daß Salisbury vor Cowes HatFeldt gesagt habe, „er wäre bereit, Rußland einen reichlichen Teil an der türkischen Verlassenschaft zu gewähren." *) Salisburys Tochter Lady Gwendolin Cecil hat eine zweibändige Biographie an¬ gekündigt, die hoffentlich inhaltreicher ist, als der Durchschnitt dieser «llks sua letters"- Lebensläufe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/189>, abgerufen am 24.07.2024.