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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Stätten der deutschen Sage

gehört haben und Nonnen mit Lichtern umherwandeln gesehen haben. Dasselbe
wird von anderen verfallenen Klöstern erzählt. Es handelt sich um Erinnerungen
des Volkes an früher dort alltäglich gesehene Vorgänge. Mehrere Sagen wissen
von jungen Nonnen, die heimlich ein Kindlein zur Welt brachten und nun weh¬
klagend am Rande eines Brunnens erscheinen, in den sie es einst warfen, da sie
Entdeckung und Schande fürchteten.....

In den Kellern verfallener Burgen müssen angeblich Schätze liegen, die nur
der Mutigste, oder ein Glückskind heben kann. Der ganze Odenwald ist erfüllt
von Berichten über den gespenstigen Rodensteiner, worunter sich nach Ansicht der
Forscher Wotan verbirgt. Allerorten zeigt man Gehöfte und Pfade, durch und
über welche seine wilde Jagd dahinritt. Im Jahre 1848 wollen ihn die Bauern
von Reichenbach im Odenwald zum letzten Male gesehen haben I An vielen
Stellen zeigt man Kinderbrunnen, aus deren Tiefe die Holda angeblich die
Kleinen brachte. Solche Kinderbrunnen sah ich bei Goslar, Friedrichroda und
Vensheim a. d. B. -- In Darmstadt heißt eine Gasse die Hinkelsteingasse; es
zeigt sich da eines der ältesten Gehöfte der Stadt um eine große Hünenstein,
gruppe herumgebaut, die noch an den Mauern des Gehöftes hervorsteht und die
Straße sperrt. Die Sage hält diese Stelle für den Stadtkern, die erste Sied¬
lungsstelle der Stadt Darmstadt, die vor Zeiten anscheinend an dem jetzt ausge¬
trockneten Wasserlauf der "Darme" angelegt worden war.

Zahlreiche Überlieferungen wissen von "wilden Weibchen" im Odenwald,
die in den noch heute sichtbaren Höhlen wohnten und die aus wildem Salbei und
anderen Kräutern allerlei Tränke kochten, deren Herstellung nicht verraten werden
durfte, weil darauf ihr hohes Ansehen beim Volke beruhte. -- Das "Felsenmeer"
im Odenwald soll von einem Kampf zweier Riesen herrühren, die auf zwei be¬
nachbarten Bergen hausten und sich mit Felsstücken bewarfen. Hier will die
Sage die dem Volk unverständlichen geologischen Vorgänge erklären, während im
Falle der "wilden Weibchen" Erinnerungen an heidnische Gebräuche vorzuliegen
scheinen. ^




Der Zauber der Sage und des Märchens ist tief begründet; wir erkennen
nicht deutlich, aber wir ahnen tief verborgene Wahrheiten und Beziehungen,
ahnen die seltsamen, fernen, wilden Zeiten, die heidnischen Menschenseelen, wie
sie in weit unmittelbareren Verhältnissen zu den Naturkräften standen. Geheime
Sehnsucht treibt auch den Wissenden in die Vorzeit; er sucht das leise Grauen im
Lesen ihrer Nachklänge, der Sagen. -- Das Kind aber liest am liebsten das
echte Märchen (welches dem folgerichtig und nüchtern denkenden Erwachsenen
manchmal so sinnlos erscheint), da es dem Urzustand des menschlichen Gemütes
noch näher steht; weil es sich in der Märchenwelt auf geheimnisvolle Weise zu
Haus fühlt.....

Sagen und Märchen sind wie Wurzeln unserer Kraft, unseres UrWesens
tief im Grunde der Zeiten.




Stätten der deutschen Sage

gehört haben und Nonnen mit Lichtern umherwandeln gesehen haben. Dasselbe
wird von anderen verfallenen Klöstern erzählt. Es handelt sich um Erinnerungen
des Volkes an früher dort alltäglich gesehene Vorgänge. Mehrere Sagen wissen
von jungen Nonnen, die heimlich ein Kindlein zur Welt brachten und nun weh¬
klagend am Rande eines Brunnens erscheinen, in den sie es einst warfen, da sie
Entdeckung und Schande fürchteten.....

In den Kellern verfallener Burgen müssen angeblich Schätze liegen, die nur
der Mutigste, oder ein Glückskind heben kann. Der ganze Odenwald ist erfüllt
von Berichten über den gespenstigen Rodensteiner, worunter sich nach Ansicht der
Forscher Wotan verbirgt. Allerorten zeigt man Gehöfte und Pfade, durch und
über welche seine wilde Jagd dahinritt. Im Jahre 1848 wollen ihn die Bauern
von Reichenbach im Odenwald zum letzten Male gesehen haben I An vielen
Stellen zeigt man Kinderbrunnen, aus deren Tiefe die Holda angeblich die
Kleinen brachte. Solche Kinderbrunnen sah ich bei Goslar, Friedrichroda und
Vensheim a. d. B. — In Darmstadt heißt eine Gasse die Hinkelsteingasse; es
zeigt sich da eines der ältesten Gehöfte der Stadt um eine große Hünenstein,
gruppe herumgebaut, die noch an den Mauern des Gehöftes hervorsteht und die
Straße sperrt. Die Sage hält diese Stelle für den Stadtkern, die erste Sied¬
lungsstelle der Stadt Darmstadt, die vor Zeiten anscheinend an dem jetzt ausge¬
trockneten Wasserlauf der „Darme" angelegt worden war.

Zahlreiche Überlieferungen wissen von „wilden Weibchen" im Odenwald,
die in den noch heute sichtbaren Höhlen wohnten und die aus wildem Salbei und
anderen Kräutern allerlei Tränke kochten, deren Herstellung nicht verraten werden
durfte, weil darauf ihr hohes Ansehen beim Volke beruhte. — Das „Felsenmeer"
im Odenwald soll von einem Kampf zweier Riesen herrühren, die auf zwei be¬
nachbarten Bergen hausten und sich mit Felsstücken bewarfen. Hier will die
Sage die dem Volk unverständlichen geologischen Vorgänge erklären, während im
Falle der „wilden Weibchen" Erinnerungen an heidnische Gebräuche vorzuliegen
scheinen. ^




Der Zauber der Sage und des Märchens ist tief begründet; wir erkennen
nicht deutlich, aber wir ahnen tief verborgene Wahrheiten und Beziehungen,
ahnen die seltsamen, fernen, wilden Zeiten, die heidnischen Menschenseelen, wie
sie in weit unmittelbareren Verhältnissen zu den Naturkräften standen. Geheime
Sehnsucht treibt auch den Wissenden in die Vorzeit; er sucht das leise Grauen im
Lesen ihrer Nachklänge, der Sagen. — Das Kind aber liest am liebsten das
echte Märchen (welches dem folgerichtig und nüchtern denkenden Erwachsenen
manchmal so sinnlos erscheint), da es dem Urzustand des menschlichen Gemütes
noch näher steht; weil es sich in der Märchenwelt auf geheimnisvolle Weise zu
Haus fühlt.....

Sagen und Märchen sind wie Wurzeln unserer Kraft, unseres UrWesens
tief im Grunde der Zeiten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/283>, abgerufen am 23.11.2024.