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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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Weltspiegel

Nein, die Aussichten sind nicht günstig für Deutschland. Weil wir nicht
wissen, was wir wollen und alles aufs Geratewohl durcheinander und gegen¬
einander arbeitet. Die Zusannnenhangslosigkeit zwischen den einzelnen Andern
einerseits, zwischen ihnen und der öffentlichen Meinung anderseits ist schlimmer
denn je, zumal auch die Ausnutzung außenpolitischer Verhältnisse zu demagogischen
und parteipolitischer Zwecken bei uns das Maß des in allen Ländern Üblichen längst
überschritten hat. Anstatt auch nur den Versuch zu machen, seine Landsleute, da der
Feind vor den Toren steht, zusammenzureißen, appelliert der deutsche Außen¬
minister, die eigene Gesinnung rühmend, ans Ausland. Schon wieder zeigt jeder,
anstatt zu säuseln, anstatt das Höchstmaß an Begabung und Diplomatie zu ent¬
falten, auf den andern: der hat schuld, wenn die Sache nicht gut geht.

Damit all diesen betrüblichen Vorgängen auch das Satirspiel nicht fehlte,
berieten zu Anfang des Monats die Sozialsten in Amsterdam über den Wieder¬
aufbau. Der Gedanke, angesichts der genugsam erwiesenen Unfähigkeit der bürger¬
lichen Regierungen, in der Wiederaufbaufrage zu einer billigen, vernünftigen und
für alle' Teile' vorteilhaften Regelung zu gelangen, das Problem jetzt von
sozialistischer Seite her in die Hand zu nehmen, lag ja nahe genug. Aber wie
alle Pazifisten war auch diesen Reformatoren mehr am Zank denn an Handeln
gelegen. Statt einer Versammlung gab es drei, die -- hauptsächlich natürlich
Wieder infolge der Haltung eines Deutschen -- es -- aus prinzipiellen Gründen --
sorgfältigst vermieden, sich untereinander zu einigen und somit nicht nur jedes Recht
verwirkten, auf die Unverträglichkeit der bürgerlichen Regierungen zu schelten,
sondern auch den Anspruch, daß ihre Resolutionen besonders beachtet würden. Wo
immer man hinblickt, Europa scheint zum Untergange reif und das ständige Lieb¬
äugeln aller europäischen Staaten mit'Amerika zeigt, daß Europa vor sich selbst
abzudanken und zu einem Erdteil zweiter Klasse herabzusinken im Begriffe ist. In
Frankreich Napolevnitis, in Deutschland Unklarheit und Anarchie^ in Rußland
Ruin, in England Revolution oder doch Revolutionsgefahr, die die Lebensquellen
des Landes zu verstopfen droht. Das ist das Paradies, das man den Völkern
nach dem Frieden gebracht hat. --

Im Ausland war das wichtigste Ereignis der große Streik in England.
Einen Augenblick schien es, als ob Lloyd George auf das falsche Pferd gesetzt hatte.
Hielt der "Arbeiter-Dreiverband" zusammen, so lag die bürgerliche Negierung an
Boden. Aber die Arbeiter selbst erkannten im letzten Augenblick, daß ihr Sieg
nur auf Kosten des allgemeinen Ruins zu haben gewesen wäre und rückten in
letzter Stunde von den 'intransigenten Elementen ab. Wie dringend die Kohlen-
swge der Regelung bedarf, geht aus der Tatsache hervor, daß der englische Export
gegen 1913 auf etwa ein Drittel gefallen, der amerikanische auf das Neunfache
angewachsen ist. Noch bedenklicher sind folgende Zahlen: in den ersten zehn
Monaten 1919 exportierte Amerika nach Südamerika 1 456 285 t, nach Europa
Z 917 t, 1920 nach Südamerika 2 850 297 t, nach Europa 10 935 015 t, nach
Ägypten 1919 36 043 t, 1920 501 515 t. Die amerikanische Kohle stellt sich in
Europa fast an 4 Shilling billiger als englische. Macht man sich klar, daß das
britische Welthandels'shstem'auf der Möglichkeit, Kohle zu exportieren, basiert
wir!) 's°> '"an ermessen, was das für England bedeutet. Entweder England
Semlin ^ ^elthandelshegemonie aufgeben oder die Kvhlcnpreise senken müssen,
unter ^" "^""üter werden darüber seufzen, daß wieder gerade die Arbeiter
mitaelwl -" Notwendigkeit zu leiden haben werden. Aber haben sie nicht tapfer
Es gäbe ^^^ä gegen Deutschland mittels der Hungerblockade zu "gewinnen"?
teil haben sollte ^ nicht auch sie an den Ergebnissen dieses Krieges
^ Menenius




Weltspiegel

Nein, die Aussichten sind nicht günstig für Deutschland. Weil wir nicht
wissen, was wir wollen und alles aufs Geratewohl durcheinander und gegen¬
einander arbeitet. Die Zusannnenhangslosigkeit zwischen den einzelnen Andern
einerseits, zwischen ihnen und der öffentlichen Meinung anderseits ist schlimmer
denn je, zumal auch die Ausnutzung außenpolitischer Verhältnisse zu demagogischen
und parteipolitischer Zwecken bei uns das Maß des in allen Ländern Üblichen längst
überschritten hat. Anstatt auch nur den Versuch zu machen, seine Landsleute, da der
Feind vor den Toren steht, zusammenzureißen, appelliert der deutsche Außen¬
minister, die eigene Gesinnung rühmend, ans Ausland. Schon wieder zeigt jeder,
anstatt zu säuseln, anstatt das Höchstmaß an Begabung und Diplomatie zu ent¬
falten, auf den andern: der hat schuld, wenn die Sache nicht gut geht.

Damit all diesen betrüblichen Vorgängen auch das Satirspiel nicht fehlte,
berieten zu Anfang des Monats die Sozialsten in Amsterdam über den Wieder¬
aufbau. Der Gedanke, angesichts der genugsam erwiesenen Unfähigkeit der bürger¬
lichen Regierungen, in der Wiederaufbaufrage zu einer billigen, vernünftigen und
für alle' Teile' vorteilhaften Regelung zu gelangen, das Problem jetzt von
sozialistischer Seite her in die Hand zu nehmen, lag ja nahe genug. Aber wie
alle Pazifisten war auch diesen Reformatoren mehr am Zank denn an Handeln
gelegen. Statt einer Versammlung gab es drei, die — hauptsächlich natürlich
Wieder infolge der Haltung eines Deutschen — es — aus prinzipiellen Gründen —
sorgfältigst vermieden, sich untereinander zu einigen und somit nicht nur jedes Recht
verwirkten, auf die Unverträglichkeit der bürgerlichen Regierungen zu schelten,
sondern auch den Anspruch, daß ihre Resolutionen besonders beachtet würden. Wo
immer man hinblickt, Europa scheint zum Untergange reif und das ständige Lieb¬
äugeln aller europäischen Staaten mit'Amerika zeigt, daß Europa vor sich selbst
abzudanken und zu einem Erdteil zweiter Klasse herabzusinken im Begriffe ist. In
Frankreich Napolevnitis, in Deutschland Unklarheit und Anarchie^ in Rußland
Ruin, in England Revolution oder doch Revolutionsgefahr, die die Lebensquellen
des Landes zu verstopfen droht. Das ist das Paradies, das man den Völkern
nach dem Frieden gebracht hat. —

Im Ausland war das wichtigste Ereignis der große Streik in England.
Einen Augenblick schien es, als ob Lloyd George auf das falsche Pferd gesetzt hatte.
Hielt der „Arbeiter-Dreiverband" zusammen, so lag die bürgerliche Negierung an
Boden. Aber die Arbeiter selbst erkannten im letzten Augenblick, daß ihr Sieg
nur auf Kosten des allgemeinen Ruins zu haben gewesen wäre und rückten in
letzter Stunde von den 'intransigenten Elementen ab. Wie dringend die Kohlen-
swge der Regelung bedarf, geht aus der Tatsache hervor, daß der englische Export
gegen 1913 auf etwa ein Drittel gefallen, der amerikanische auf das Neunfache
angewachsen ist. Noch bedenklicher sind folgende Zahlen: in den ersten zehn
Monaten 1919 exportierte Amerika nach Südamerika 1 456 285 t, nach Europa
Z 917 t, 1920 nach Südamerika 2 850 297 t, nach Europa 10 935 015 t, nach
Ägypten 1919 36 043 t, 1920 501 515 t. Die amerikanische Kohle stellt sich in
Europa fast an 4 Shilling billiger als englische. Macht man sich klar, daß das
britische Welthandels'shstem'auf der Möglichkeit, Kohle zu exportieren, basiert
wir!) 's°> '"an ermessen, was das für England bedeutet. Entweder England
Semlin ^ ^elthandelshegemonie aufgeben oder die Kvhlcnpreise senken müssen,
unter ^„ »^""üter werden darüber seufzen, daß wieder gerade die Arbeiter
mitaelwl -» Notwendigkeit zu leiden haben werden. Aber haben sie nicht tapfer
Es gäbe ^^^ä gegen Deutschland mittels der Hungerblockade zu „gewinnen"?
teil haben sollte ^ nicht auch sie an den Ergebnissen dieses Krieges
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[0125] Weltspiegel Nein, die Aussichten sind nicht günstig für Deutschland. Weil wir nicht wissen, was wir wollen und alles aufs Geratewohl durcheinander und gegen¬ einander arbeitet. Die Zusannnenhangslosigkeit zwischen den einzelnen Andern einerseits, zwischen ihnen und der öffentlichen Meinung anderseits ist schlimmer denn je, zumal auch die Ausnutzung außenpolitischer Verhältnisse zu demagogischen und parteipolitischer Zwecken bei uns das Maß des in allen Ländern Üblichen längst überschritten hat. Anstatt auch nur den Versuch zu machen, seine Landsleute, da der Feind vor den Toren steht, zusammenzureißen, appelliert der deutsche Außen¬ minister, die eigene Gesinnung rühmend, ans Ausland. Schon wieder zeigt jeder, anstatt zu säuseln, anstatt das Höchstmaß an Begabung und Diplomatie zu ent¬ falten, auf den andern: der hat schuld, wenn die Sache nicht gut geht. Damit all diesen betrüblichen Vorgängen auch das Satirspiel nicht fehlte, berieten zu Anfang des Monats die Sozialsten in Amsterdam über den Wieder¬ aufbau. Der Gedanke, angesichts der genugsam erwiesenen Unfähigkeit der bürger¬ lichen Regierungen, in der Wiederaufbaufrage zu einer billigen, vernünftigen und für alle' Teile' vorteilhaften Regelung zu gelangen, das Problem jetzt von sozialistischer Seite her in die Hand zu nehmen, lag ja nahe genug. Aber wie alle Pazifisten war auch diesen Reformatoren mehr am Zank denn an Handeln gelegen. Statt einer Versammlung gab es drei, die — hauptsächlich natürlich Wieder infolge der Haltung eines Deutschen — es — aus prinzipiellen Gründen — sorgfältigst vermieden, sich untereinander zu einigen und somit nicht nur jedes Recht verwirkten, auf die Unverträglichkeit der bürgerlichen Regierungen zu schelten, sondern auch den Anspruch, daß ihre Resolutionen besonders beachtet würden. Wo immer man hinblickt, Europa scheint zum Untergange reif und das ständige Lieb¬ äugeln aller europäischen Staaten mit'Amerika zeigt, daß Europa vor sich selbst abzudanken und zu einem Erdteil zweiter Klasse herabzusinken im Begriffe ist. In Frankreich Napolevnitis, in Deutschland Unklarheit und Anarchie^ in Rußland Ruin, in England Revolution oder doch Revolutionsgefahr, die die Lebensquellen des Landes zu verstopfen droht. Das ist das Paradies, das man den Völkern nach dem Frieden gebracht hat. — Im Ausland war das wichtigste Ereignis der große Streik in England. Einen Augenblick schien es, als ob Lloyd George auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Hielt der „Arbeiter-Dreiverband" zusammen, so lag die bürgerliche Negierung an Boden. Aber die Arbeiter selbst erkannten im letzten Augenblick, daß ihr Sieg nur auf Kosten des allgemeinen Ruins zu haben gewesen wäre und rückten in letzter Stunde von den 'intransigenten Elementen ab. Wie dringend die Kohlen- swge der Regelung bedarf, geht aus der Tatsache hervor, daß der englische Export gegen 1913 auf etwa ein Drittel gefallen, der amerikanische auf das Neunfache angewachsen ist. Noch bedenklicher sind folgende Zahlen: in den ersten zehn Monaten 1919 exportierte Amerika nach Südamerika 1 456 285 t, nach Europa Z 917 t, 1920 nach Südamerika 2 850 297 t, nach Europa 10 935 015 t, nach Ägypten 1919 36 043 t, 1920 501 515 t. Die amerikanische Kohle stellt sich in Europa fast an 4 Shilling billiger als englische. Macht man sich klar, daß das britische Welthandels'shstem'auf der Möglichkeit, Kohle zu exportieren, basiert wir!) 's°> '"an ermessen, was das für England bedeutet. Entweder England Semlin ^ ^elthandelshegemonie aufgeben oder die Kvhlcnpreise senken müssen, unter ^„ »^""üter werden darüber seufzen, daß wieder gerade die Arbeiter mitaelwl -» Notwendigkeit zu leiden haben werden. Aber haben sie nicht tapfer Es gäbe ^^^ä gegen Deutschland mittels der Hungerblockade zu „gewinnen"? teil haben sollte ^ nicht auch sie an den Ergebnissen dieses Krieges ^ Menenius

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/125>, abgerufen am 23.11.2024.