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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Offenherzigkeiten
Den Namen Bismarcks verschütte
So tief, wie's immer nur geht!
Hauptsache, daß Bismarckhütte
Sie'in hundert achtzig steht.
All unsre Hoffnungen schwelen
Um Canada Pacific,
Die Kurse steigen -- die Seelen
Versinken in Schlamm und Schlick.
"Die Börse oder das Leben!"
Dies Land, das jobbert und spielt,
Hat Ehre und Leben gegeben,
Wofür es die Börse behielt.

pandur.


(Offenherzigkeiten
Steuerbescheide

Ende September sind die Einkommensteuer-Veranlagungen für das laufende
Rechnungsjahr versandt worden. Sie waren mindestens ein halbes Jahr früher fällig.

Dabei hat die Behörde infolge überwältigender Arbeitslast bekanntlich von
einer Neueinschätzung für 1920/21 Abstand genommen und schlechtweg die Ergeb¬
nisse des Vorjahres zugrunde gelegt. Die Tätigkeit der Beamten bestand also
nur darin, daß sie von der neuen Einkommensteuertabelle abzulesen hatten, welche
erhöhte Summe der Steuerzahler entrichten mußte. Zieht man die durch
Politische, durch Gemüts- und Ernährungsschwierigkeiten herabgesetzte Arbeitskraft
der Finanzangestellten gehörig in Betracht, so sind für die Ausfüllung usw. eines
Formulars etwa 4 bis 5 Minuten Zeitverbrauch zu veranschlagen. Innerhalb
einer Stunde konnten also etwa 12 bis 15 Veranlagungen vorgenommen werden,
was beim achtstündigen Arbeitstage rund 100 ergibt. Demnach war ein Beamter
nnstande, binnen Monatsfrist 2500 solcher Dokumente herzustellen. Über
25y() Zxnsiten, die 1919 mit mehr als 3000 ^5 Einkommen veranlagt worden
sind, zählt aber beispielsweise selbst der begüterte Groß-Berliner Vorort, in dem
ich wohne, nicht.

Durch die um ein volles halbes Jahr verspätete Einschätzung haben die
Reichs-, Staats- und Gemeindekassen nicht nur beträchtliche Zinsverluste erlitten,
sondern sind auch sicherlich an direkter Steuersubstanz geschädigt worden. Denn
Mancher, der vor sechs Monaten noch hätte zahlen können, war am Michaelis¬
termin nicht mehr in der Lage dazu. Es ist zweifellos, daß die Finanzämter
sofort klar erkannt und mit Hochdruck geschanzt haben, schon um beizeiten
^>eit in die Kassen zu bringen und die große amtliche Falschmünzerwerkstatt in
°er Oranienstraße zu entlasten. Trotzdem die oben dargelegte, niederschmetternde
Minderleistung! Meine Einschätzung der behördlichen Einschätzungsarbeitskraft
kann also nicht stimmen. E" ist in den Bureaus weit, weit weniger geschafft
worden, als einfacher Verstand anzunehmen sich für berechtigt halten durfte.

Diese Tatsache eröffnet erschütternde Zukunftsausstchten.

Soeben haben ungefähr dieselben Bürger, die mühsam zur Einkommensteuer
höheren Grades veranlagt worden sind, sich für das Reichsnotopfer und die
-oesitzsteuer eingeschätzt. ES war eine schwierige, langwierige Arbeit, drei oder
Aer Tage wird jeder dazu gebraucht haben. Soll eine wirkliche, gewissenhafte
Nachprüfung auf den Ämtern erfolgen, so muß für jede Steuererklärung mindesten"


Offenherzigkeiten
Den Namen Bismarcks verschütte
So tief, wie's immer nur geht!
Hauptsache, daß Bismarckhütte
Sie'in hundert achtzig steht.
All unsre Hoffnungen schwelen
Um Canada Pacific,
Die Kurse steigen — die Seelen
Versinken in Schlamm und Schlick.
„Die Börse oder das Leben!"
Dies Land, das jobbert und spielt,
Hat Ehre und Leben gegeben,
Wofür es die Börse behielt.

pandur.


(Offenherzigkeiten
Steuerbescheide

Ende September sind die Einkommensteuer-Veranlagungen für das laufende
Rechnungsjahr versandt worden. Sie waren mindestens ein halbes Jahr früher fällig.

Dabei hat die Behörde infolge überwältigender Arbeitslast bekanntlich von
einer Neueinschätzung für 1920/21 Abstand genommen und schlechtweg die Ergeb¬
nisse des Vorjahres zugrunde gelegt. Die Tätigkeit der Beamten bestand also
nur darin, daß sie von der neuen Einkommensteuertabelle abzulesen hatten, welche
erhöhte Summe der Steuerzahler entrichten mußte. Zieht man die durch
Politische, durch Gemüts- und Ernährungsschwierigkeiten herabgesetzte Arbeitskraft
der Finanzangestellten gehörig in Betracht, so sind für die Ausfüllung usw. eines
Formulars etwa 4 bis 5 Minuten Zeitverbrauch zu veranschlagen. Innerhalb
einer Stunde konnten also etwa 12 bis 15 Veranlagungen vorgenommen werden,
was beim achtstündigen Arbeitstage rund 100 ergibt. Demnach war ein Beamter
nnstande, binnen Monatsfrist 2500 solcher Dokumente herzustellen. Über
25y() Zxnsiten, die 1919 mit mehr als 3000 ^5 Einkommen veranlagt worden
sind, zählt aber beispielsweise selbst der begüterte Groß-Berliner Vorort, in dem
ich wohne, nicht.

Durch die um ein volles halbes Jahr verspätete Einschätzung haben die
Reichs-, Staats- und Gemeindekassen nicht nur beträchtliche Zinsverluste erlitten,
sondern sind auch sicherlich an direkter Steuersubstanz geschädigt worden. Denn
Mancher, der vor sechs Monaten noch hätte zahlen können, war am Michaelis¬
termin nicht mehr in der Lage dazu. Es ist zweifellos, daß die Finanzämter
sofort klar erkannt und mit Hochdruck geschanzt haben, schon um beizeiten
^>eit in die Kassen zu bringen und die große amtliche Falschmünzerwerkstatt in
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Minderleistung! Meine Einschätzung der behördlichen Einschätzungsarbeitskraft
kann also nicht stimmen. E« ist in den Bureaus weit, weit weniger geschafft
worden, als einfacher Verstand anzunehmen sich für berechtigt halten durfte.

Diese Tatsache eröffnet erschütternde Zukunftsausstchten.

Soeben haben ungefähr dieselben Bürger, die mühsam zur Einkommensteuer
höheren Grades veranlagt worden sind, sich für das Reichsnotopfer und die
-oesitzsteuer eingeschätzt. ES war eine schwierige, langwierige Arbeit, drei oder
Aer Tage wird jeder dazu gebraucht haben. Soll eine wirkliche, gewissenhafte
Nachprüfung auf den Ämtern erfolgen, so muß für jede Steuererklärung mindesten»


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[0097] Offenherzigkeiten Den Namen Bismarcks verschütte So tief, wie's immer nur geht! Hauptsache, daß Bismarckhütte Sie'in hundert achtzig steht. All unsre Hoffnungen schwelen Um Canada Pacific, Die Kurse steigen — die Seelen Versinken in Schlamm und Schlick. „Die Börse oder das Leben!" Dies Land, das jobbert und spielt, Hat Ehre und Leben gegeben, Wofür es die Börse behielt. pandur. (Offenherzigkeiten Steuerbescheide Ende September sind die Einkommensteuer-Veranlagungen für das laufende Rechnungsjahr versandt worden. Sie waren mindestens ein halbes Jahr früher fällig. Dabei hat die Behörde infolge überwältigender Arbeitslast bekanntlich von einer Neueinschätzung für 1920/21 Abstand genommen und schlechtweg die Ergeb¬ nisse des Vorjahres zugrunde gelegt. Die Tätigkeit der Beamten bestand also nur darin, daß sie von der neuen Einkommensteuertabelle abzulesen hatten, welche erhöhte Summe der Steuerzahler entrichten mußte. Zieht man die durch Politische, durch Gemüts- und Ernährungsschwierigkeiten herabgesetzte Arbeitskraft der Finanzangestellten gehörig in Betracht, so sind für die Ausfüllung usw. eines Formulars etwa 4 bis 5 Minuten Zeitverbrauch zu veranschlagen. Innerhalb einer Stunde konnten also etwa 12 bis 15 Veranlagungen vorgenommen werden, was beim achtstündigen Arbeitstage rund 100 ergibt. Demnach war ein Beamter nnstande, binnen Monatsfrist 2500 solcher Dokumente herzustellen. Über 25y() Zxnsiten, die 1919 mit mehr als 3000 ^5 Einkommen veranlagt worden sind, zählt aber beispielsweise selbst der begüterte Groß-Berliner Vorort, in dem ich wohne, nicht. Durch die um ein volles halbes Jahr verspätete Einschätzung haben die Reichs-, Staats- und Gemeindekassen nicht nur beträchtliche Zinsverluste erlitten, sondern sind auch sicherlich an direkter Steuersubstanz geschädigt worden. Denn Mancher, der vor sechs Monaten noch hätte zahlen können, war am Michaelis¬ termin nicht mehr in der Lage dazu. Es ist zweifellos, daß die Finanzämter sofort klar erkannt und mit Hochdruck geschanzt haben, schon um beizeiten ^>eit in die Kassen zu bringen und die große amtliche Falschmünzerwerkstatt in °er Oranienstraße zu entlasten. Trotzdem die oben dargelegte, niederschmetternde Minderleistung! Meine Einschätzung der behördlichen Einschätzungsarbeitskraft kann also nicht stimmen. E« ist in den Bureaus weit, weit weniger geschafft worden, als einfacher Verstand anzunehmen sich für berechtigt halten durfte. Diese Tatsache eröffnet erschütternde Zukunftsausstchten. Soeben haben ungefähr dieselben Bürger, die mühsam zur Einkommensteuer höheren Grades veranlagt worden sind, sich für das Reichsnotopfer und die -oesitzsteuer eingeschätzt. ES war eine schwierige, langwierige Arbeit, drei oder Aer Tage wird jeder dazu gebraucht haben. Soll eine wirkliche, gewissenhafte Nachprüfung auf den Ämtern erfolgen, so muß für jede Steuererklärung mindesten»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/97>, abgerufen am 24.08.2024.