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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Recht hat, "automatisch", d. h. ohne vorher eingeholte Zustimmung der Alliierten
das Ruhrgebiet zu besetzen, falls Deutschland das Spa-Abkommen nicht restlos
erfüllt hat. Kein Zweifel, daß der Vorwand rasch gefunden sein wird. Es
fehlen vielleicht zwei oder drei Tonnen an der Kohlenlieferung, die Qualität der
Kohlen wird, wie das französischerseits bereits geschehen ist, beanstandet, oder es
werden Dokumente gefunden und vorgebracht, die beweisen sollen, daß Deutsch¬
land die Entwaffnungsbestimmungen nicht oder nur zum Schein durchführt. Oder
es brechen von heut auf morgen -- Anzeichen dafür sind ja vorhanden -- in
Deutschland Unruhen aus, die Frankreichs Kohlenbelieferung aus dem Ruhrgebiet
"gefährden", so daß die französische Regierung die "unabweisbare Pflicht" hat,
seine Kohlenversorgung durch mindestens vorläufiges Einrücken sicherzustellen.
Gründe sind wohlfeil wie Brombeeren. Die französische Öffentlichkeit ist vor¬
bereitet. Seit Monaten fordern französische Zeitungen tagtäglich die Besetzung
als einzige Bürgschaft dafür, daß Deutschland die Kriegsentschädigung bezahlt, ja,
an einer Stelle ist sogar die Besetzung als Propagandamittel für die neue fran¬
zösische Anleihe gefordert worden. Die Aktion selbst ist bis in die geringsten
Einzelheiten vorbereitet.

Allerdings bestehen innerhalb der französischen Regierung und in Jndustrie-
kreisen Bedenken. Man kann sich nicht verhehlen, daß die eigenmächtige Besetzung
den endgültigen Bruch mit England bedeutet und fürchtet vielleicht eine Gegen¬
aktion der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale. Aber schon wird in Kreisen
französischer Politiker die Loslösung von England, wo die jüngsten Wahlerfolge
der Asquith-Liberalen mit kaum verhehlter Unruhe betrachtet werden, als unver¬
meidlich und als Ersatz dafür eine Annäherung an Amerika befürwortet, schon
wird offen erörtert, auf welche Seite Frankreich im Falle eines englisch-ameri¬
kanischen Konflikts zu treten habe, schon verbreitet Havas die von französischen
Gewerkschaftlern allerdings alsbald lügengestrafte Nachricht: die Gewerkschafts¬
internationale, deren Vertreter augenblicklich das Ruhrgebiet bereisen, erkennt an,
daß Deutschland das Spa-Akommen nicht erfüllt.

Frankreich steht am Scheidewege, es hat die Wahl zwischen friedlicher Ver¬
ständigung und gewaltsamer Sicherung. Immer wieder wird von deutscher Seite
aus versucht, den Franzosen klarzumachen, daß der erste Weg der einzig gang¬
bare, förderliche und vernünftige ist, auch für Frankreich, und es wäre ungerecht,
zu leugnen, daß es auch in Frankreich nicht an Persönlichkeiten fehlt, die ihn für
den richtigen halten. Aber es geschieht eben in der Politik nicht immer das
Richtige, Vorteilhafte und einzig Verständige. Oft genug wird der augenblickliche
Vorteil dem Gewinn in langer Sicht vorgezogen, oft genug erscheint die An¬
wendung von Gewalt als die einzige Möglichkeit, der wachsenden Flut drohender
Verlegenheiten zu entrinnen. Die deutschen Verftändigungspolitiker übersehen
durchweg die Zwangsläufigkeit, in der Frankreichs Negierung, sie sei, welche sie
sei, sich 'befindet. Frankreich hat einen Krieg geführt, dessen Durchführung
das Kräfteverhältnis der Verbündeten Armeen an der Westfront im Jahre 1913
bewies es mit aller Deutlichkeit -- weit über seine natürlichen Kräfte hinaus¬
ging. Seit Jahr und Tag ist Frankreichs Volk versichert worden, daß die
Opfer, an denen Frankreichs Kraft sich verblutete, durch Deutschland eingebracht
werden würden. Nun stellt sich heraus, daß dies nicht möglich ist, daß Frank¬
reich nicht nur über seine, sondern auch über die Ersatzkräfte des besiegten
Gegners hinaus gewirtschaftet, daß der Krieg die Opfer nicht gelohnt hat. Wenn
Frankreich die Summe, die Deutschland ihm als Entschädigung zahlen soll, noch
immer nicht nennen will, so geschieht das nicht aus Bosheit, um den Gegner
weiter in banger Ungewißheit zu lassen, nicht wegen der technischen Unmöglichkeit,
die Gesamtheit der entstandenen Schäden schon jetzt zu bestimmen, nicht nur aus
Furcht, dem Gegner, der sich vielleicht doch wider Erwarten rasch erholen könnte,
durch vorzeitige Fixierung etwas zu schenken, sondern vor allem deswegen, wen
die endgültige Nennung der Summe die sofortige Erkenntnis zur Folge haben
würde, daß sie entweder zu gering ist, Frankreichs Defizit an Geld und Wirt-


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Recht hat, „automatisch", d. h. ohne vorher eingeholte Zustimmung der Alliierten
das Ruhrgebiet zu besetzen, falls Deutschland das Spa-Abkommen nicht restlos
erfüllt hat. Kein Zweifel, daß der Vorwand rasch gefunden sein wird. Es
fehlen vielleicht zwei oder drei Tonnen an der Kohlenlieferung, die Qualität der
Kohlen wird, wie das französischerseits bereits geschehen ist, beanstandet, oder es
werden Dokumente gefunden und vorgebracht, die beweisen sollen, daß Deutsch¬
land die Entwaffnungsbestimmungen nicht oder nur zum Schein durchführt. Oder
es brechen von heut auf morgen — Anzeichen dafür sind ja vorhanden — in
Deutschland Unruhen aus, die Frankreichs Kohlenbelieferung aus dem Ruhrgebiet
„gefährden", so daß die französische Regierung die „unabweisbare Pflicht" hat,
seine Kohlenversorgung durch mindestens vorläufiges Einrücken sicherzustellen.
Gründe sind wohlfeil wie Brombeeren. Die französische Öffentlichkeit ist vor¬
bereitet. Seit Monaten fordern französische Zeitungen tagtäglich die Besetzung
als einzige Bürgschaft dafür, daß Deutschland die Kriegsentschädigung bezahlt, ja,
an einer Stelle ist sogar die Besetzung als Propagandamittel für die neue fran¬
zösische Anleihe gefordert worden. Die Aktion selbst ist bis in die geringsten
Einzelheiten vorbereitet.

Allerdings bestehen innerhalb der französischen Regierung und in Jndustrie-
kreisen Bedenken. Man kann sich nicht verhehlen, daß die eigenmächtige Besetzung
den endgültigen Bruch mit England bedeutet und fürchtet vielleicht eine Gegen¬
aktion der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale. Aber schon wird in Kreisen
französischer Politiker die Loslösung von England, wo die jüngsten Wahlerfolge
der Asquith-Liberalen mit kaum verhehlter Unruhe betrachtet werden, als unver¬
meidlich und als Ersatz dafür eine Annäherung an Amerika befürwortet, schon
wird offen erörtert, auf welche Seite Frankreich im Falle eines englisch-ameri¬
kanischen Konflikts zu treten habe, schon verbreitet Havas die von französischen
Gewerkschaftlern allerdings alsbald lügengestrafte Nachricht: die Gewerkschafts¬
internationale, deren Vertreter augenblicklich das Ruhrgebiet bereisen, erkennt an,
daß Deutschland das Spa-Akommen nicht erfüllt.

Frankreich steht am Scheidewege, es hat die Wahl zwischen friedlicher Ver¬
ständigung und gewaltsamer Sicherung. Immer wieder wird von deutscher Seite
aus versucht, den Franzosen klarzumachen, daß der erste Weg der einzig gang¬
bare, förderliche und vernünftige ist, auch für Frankreich, und es wäre ungerecht,
zu leugnen, daß es auch in Frankreich nicht an Persönlichkeiten fehlt, die ihn für
den richtigen halten. Aber es geschieht eben in der Politik nicht immer das
Richtige, Vorteilhafte und einzig Verständige. Oft genug wird der augenblickliche
Vorteil dem Gewinn in langer Sicht vorgezogen, oft genug erscheint die An¬
wendung von Gewalt als die einzige Möglichkeit, der wachsenden Flut drohender
Verlegenheiten zu entrinnen. Die deutschen Verftändigungspolitiker übersehen
durchweg die Zwangsläufigkeit, in der Frankreichs Negierung, sie sei, welche sie
sei, sich 'befindet. Frankreich hat einen Krieg geführt, dessen Durchführung
das Kräfteverhältnis der Verbündeten Armeen an der Westfront im Jahre 1913
bewies es mit aller Deutlichkeit — weit über seine natürlichen Kräfte hinaus¬
ging. Seit Jahr und Tag ist Frankreichs Volk versichert worden, daß die
Opfer, an denen Frankreichs Kraft sich verblutete, durch Deutschland eingebracht
werden würden. Nun stellt sich heraus, daß dies nicht möglich ist, daß Frank¬
reich nicht nur über seine, sondern auch über die Ersatzkräfte des besiegten
Gegners hinaus gewirtschaftet, daß der Krieg die Opfer nicht gelohnt hat. Wenn
Frankreich die Summe, die Deutschland ihm als Entschädigung zahlen soll, noch
immer nicht nennen will, so geschieht das nicht aus Bosheit, um den Gegner
weiter in banger Ungewißheit zu lassen, nicht wegen der technischen Unmöglichkeit,
die Gesamtheit der entstandenen Schäden schon jetzt zu bestimmen, nicht nur aus
Furcht, dem Gegner, der sich vielleicht doch wider Erwarten rasch erholen könnte,
durch vorzeitige Fixierung etwas zu schenken, sondern vor allem deswegen, wen
die endgültige Nennung der Summe die sofortige Erkenntnis zur Folge haben
würde, daß sie entweder zu gering ist, Frankreichs Defizit an Geld und Wirt-


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[0180] Weltspiegel Recht hat, „automatisch", d. h. ohne vorher eingeholte Zustimmung der Alliierten das Ruhrgebiet zu besetzen, falls Deutschland das Spa-Abkommen nicht restlos erfüllt hat. Kein Zweifel, daß der Vorwand rasch gefunden sein wird. Es fehlen vielleicht zwei oder drei Tonnen an der Kohlenlieferung, die Qualität der Kohlen wird, wie das französischerseits bereits geschehen ist, beanstandet, oder es werden Dokumente gefunden und vorgebracht, die beweisen sollen, daß Deutsch¬ land die Entwaffnungsbestimmungen nicht oder nur zum Schein durchführt. Oder es brechen von heut auf morgen — Anzeichen dafür sind ja vorhanden — in Deutschland Unruhen aus, die Frankreichs Kohlenbelieferung aus dem Ruhrgebiet „gefährden", so daß die französische Regierung die „unabweisbare Pflicht" hat, seine Kohlenversorgung durch mindestens vorläufiges Einrücken sicherzustellen. Gründe sind wohlfeil wie Brombeeren. Die französische Öffentlichkeit ist vor¬ bereitet. Seit Monaten fordern französische Zeitungen tagtäglich die Besetzung als einzige Bürgschaft dafür, daß Deutschland die Kriegsentschädigung bezahlt, ja, an einer Stelle ist sogar die Besetzung als Propagandamittel für die neue fran¬ zösische Anleihe gefordert worden. Die Aktion selbst ist bis in die geringsten Einzelheiten vorbereitet. Allerdings bestehen innerhalb der französischen Regierung und in Jndustrie- kreisen Bedenken. Man kann sich nicht verhehlen, daß die eigenmächtige Besetzung den endgültigen Bruch mit England bedeutet und fürchtet vielleicht eine Gegen¬ aktion der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale. Aber schon wird in Kreisen französischer Politiker die Loslösung von England, wo die jüngsten Wahlerfolge der Asquith-Liberalen mit kaum verhehlter Unruhe betrachtet werden, als unver¬ meidlich und als Ersatz dafür eine Annäherung an Amerika befürwortet, schon wird offen erörtert, auf welche Seite Frankreich im Falle eines englisch-ameri¬ kanischen Konflikts zu treten habe, schon verbreitet Havas die von französischen Gewerkschaftlern allerdings alsbald lügengestrafte Nachricht: die Gewerkschafts¬ internationale, deren Vertreter augenblicklich das Ruhrgebiet bereisen, erkennt an, daß Deutschland das Spa-Akommen nicht erfüllt. Frankreich steht am Scheidewege, es hat die Wahl zwischen friedlicher Ver¬ ständigung und gewaltsamer Sicherung. Immer wieder wird von deutscher Seite aus versucht, den Franzosen klarzumachen, daß der erste Weg der einzig gang¬ bare, förderliche und vernünftige ist, auch für Frankreich, und es wäre ungerecht, zu leugnen, daß es auch in Frankreich nicht an Persönlichkeiten fehlt, die ihn für den richtigen halten. Aber es geschieht eben in der Politik nicht immer das Richtige, Vorteilhafte und einzig Verständige. Oft genug wird der augenblickliche Vorteil dem Gewinn in langer Sicht vorgezogen, oft genug erscheint die An¬ wendung von Gewalt als die einzige Möglichkeit, der wachsenden Flut drohender Verlegenheiten zu entrinnen. Die deutschen Verftändigungspolitiker übersehen durchweg die Zwangsläufigkeit, in der Frankreichs Negierung, sie sei, welche sie sei, sich 'befindet. Frankreich hat einen Krieg geführt, dessen Durchführung das Kräfteverhältnis der Verbündeten Armeen an der Westfront im Jahre 1913 bewies es mit aller Deutlichkeit — weit über seine natürlichen Kräfte hinaus¬ ging. Seit Jahr und Tag ist Frankreichs Volk versichert worden, daß die Opfer, an denen Frankreichs Kraft sich verblutete, durch Deutschland eingebracht werden würden. Nun stellt sich heraus, daß dies nicht möglich ist, daß Frank¬ reich nicht nur über seine, sondern auch über die Ersatzkräfte des besiegten Gegners hinaus gewirtschaftet, daß der Krieg die Opfer nicht gelohnt hat. Wenn Frankreich die Summe, die Deutschland ihm als Entschädigung zahlen soll, noch immer nicht nennen will, so geschieht das nicht aus Bosheit, um den Gegner weiter in banger Ungewißheit zu lassen, nicht wegen der technischen Unmöglichkeit, die Gesamtheit der entstandenen Schäden schon jetzt zu bestimmen, nicht nur aus Furcht, dem Gegner, der sich vielleicht doch wider Erwarten rasch erholen könnte, durch vorzeitige Fixierung etwas zu schenken, sondern vor allem deswegen, wen die endgültige Nennung der Summe die sofortige Erkenntnis zur Folge haben würde, daß sie entweder zu gering ist, Frankreichs Defizit an Geld und Wirt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/180>, abgerufen am 22.07.2024.