Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das französisch-belgische Militärabkommen

darin das Vorspiel für politische und ökonomische Abkommen, die aus dieser
strategischen Allianz ein wahrhaftes Bündnis machen werden." Deutlicher noch
führt Gustave Hero6 in der "Victoire" aus: "Es handle sich jetzt darum, dieses
defensive Militärbündnis durch eine wirtschaftliche Entente zu ergänzen, ohne die
das Militärbündnis Gefahr laufen würde, zerbrechlich zu sein. Es gelte nun,
die verschiedenartigen Zollsysteme der beiden Länder einander derart anzunähern,
daß eine Zollunion möglich werde, in die auch Luxemburg einzubeziehen sei.
Wenn diese wirtschaftliche und diese Zollunion zustande komme, dann könnte man
sagen, daß Frankreich und Belgien die Verträge von 1815 zerrissen haben, welche
die beiden Länder, die die Natur aufeinander angewiesen hat, in brutaler Weise
voneinander getrennt haben." Man beachte dabei wohl, daß es vornehmlich
England war, das jene Verträge von 1815 in seinem eignen und Europas Interesse
gegen die französische Begehrlichkeit errichtet hat. Am offenherzigsten betont im
"Journal" Samt Brice die Gegensätzlichkeit der englischen und französisch-belgischen
Politik. "England habe," so führt er des weiteren aus, "im Grunde seines
Herzens die Wiederherstellung der belgischen Neutralität gewünscht, jener Neutralität,
die einstmals im Londoner Vertrage dem belgischen Staate auferlegt worden sei,
um jedes direkte oder indirekte Vorrücken Frankreichs in den Niederlanden zu
verhindern. Viele Engländer glaubten heute, die alten Zeiten seien wieder¬
gekommen, Hamburg sei erledigt,- jetzt werde Antwerpen wieder der große
Konkurrent von London. Daher verweigere man Belgien die freie Schelde-
mündung und unterstütze die Ansprüche Hollands auf Limburg. In der militärischen
Frage habe die englische Diplomatie nichts weiter angeboten als eine fünfjährige
Garantie der belgischen Neutralität. Wenn gewisse furchtsame Leute den Abschluß
des Bündnisses verzögert hätten, so hätte doch die Macht der Tatsachen sich
schließlich durchgesetzt."

Die Hemmungen, die sich in Belgien selbst, namentlich im vlämischen Lager,
aber auch darüber hinaus, bei ehrlichen Verteidigern der belgischen Unabhängig¬
keit, wohl auch bei zahlreichen Interessenten der wirtschaftlichen Selbständigkeit
und des autonomen Zolltarifs den weitergehenden sanguinischen Hoffnungen der
Franzosen entgegenstellen, sind der britischen Diplomatie natürlich nicht unbekannt
und werden von ihr gebührend in Rechnung gestellt werden. Vielleicht glaubt
sie dadurch trotz des militärischen Anfangserfolges der Gegenpartei das Spiel
dauernd in der Hand behalten zu können, ohne daß es darüber zum Bruche mit
Frankreich zu kommen brauchte, ähnlich wie in den ersten Zeiten Napoleons III.
der englisch-französische Zusammenschluß gegenüber Nußland durch die notwendige
Rücksicht, die der Kaiser auf seinen Verbündeten zu nehmen hatte, Belgien längere
Zeit mehr als alles andre vor seiner Begehrlichkeit geschützt hat.




Das französisch-belgische Militärabkommen

darin das Vorspiel für politische und ökonomische Abkommen, die aus dieser
strategischen Allianz ein wahrhaftes Bündnis machen werden." Deutlicher noch
führt Gustave Hero6 in der „Victoire" aus: „Es handle sich jetzt darum, dieses
defensive Militärbündnis durch eine wirtschaftliche Entente zu ergänzen, ohne die
das Militärbündnis Gefahr laufen würde, zerbrechlich zu sein. Es gelte nun,
die verschiedenartigen Zollsysteme der beiden Länder einander derart anzunähern,
daß eine Zollunion möglich werde, in die auch Luxemburg einzubeziehen sei.
Wenn diese wirtschaftliche und diese Zollunion zustande komme, dann könnte man
sagen, daß Frankreich und Belgien die Verträge von 1815 zerrissen haben, welche
die beiden Länder, die die Natur aufeinander angewiesen hat, in brutaler Weise
voneinander getrennt haben." Man beachte dabei wohl, daß es vornehmlich
England war, das jene Verträge von 1815 in seinem eignen und Europas Interesse
gegen die französische Begehrlichkeit errichtet hat. Am offenherzigsten betont im
„Journal" Samt Brice die Gegensätzlichkeit der englischen und französisch-belgischen
Politik. „England habe," so führt er des weiteren aus, „im Grunde seines
Herzens die Wiederherstellung der belgischen Neutralität gewünscht, jener Neutralität,
die einstmals im Londoner Vertrage dem belgischen Staate auferlegt worden sei,
um jedes direkte oder indirekte Vorrücken Frankreichs in den Niederlanden zu
verhindern. Viele Engländer glaubten heute, die alten Zeiten seien wieder¬
gekommen, Hamburg sei erledigt,- jetzt werde Antwerpen wieder der große
Konkurrent von London. Daher verweigere man Belgien die freie Schelde-
mündung und unterstütze die Ansprüche Hollands auf Limburg. In der militärischen
Frage habe die englische Diplomatie nichts weiter angeboten als eine fünfjährige
Garantie der belgischen Neutralität. Wenn gewisse furchtsame Leute den Abschluß
des Bündnisses verzögert hätten, so hätte doch die Macht der Tatsachen sich
schließlich durchgesetzt."

Die Hemmungen, die sich in Belgien selbst, namentlich im vlämischen Lager,
aber auch darüber hinaus, bei ehrlichen Verteidigern der belgischen Unabhängig¬
keit, wohl auch bei zahlreichen Interessenten der wirtschaftlichen Selbständigkeit
und des autonomen Zolltarifs den weitergehenden sanguinischen Hoffnungen der
Franzosen entgegenstellen, sind der britischen Diplomatie natürlich nicht unbekannt
und werden von ihr gebührend in Rechnung gestellt werden. Vielleicht glaubt
sie dadurch trotz des militärischen Anfangserfolges der Gegenpartei das Spiel
dauernd in der Hand behalten zu können, ohne daß es darüber zum Bruche mit
Frankreich zu kommen brauchte, ähnlich wie in den ersten Zeiten Napoleons III.
der englisch-französische Zusammenschluß gegenüber Nußland durch die notwendige
Rücksicht, die der Kaiser auf seinen Verbündeten zu nehmen hatte, Belgien längere
Zeit mehr als alles andre vor seiner Begehrlichkeit geschützt hat.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337996"/>
          <fw type="header" place="top"> Das französisch-belgische Militärabkommen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1347" prev="#ID_1346"> darin das Vorspiel für politische und ökonomische Abkommen, die aus dieser<lb/>
strategischen Allianz ein wahrhaftes Bündnis machen werden." Deutlicher noch<lb/>
führt Gustave Hero6 in der &#x201E;Victoire" aus: &#x201E;Es handle sich jetzt darum, dieses<lb/>
defensive Militärbündnis durch eine wirtschaftliche Entente zu ergänzen, ohne die<lb/>
das Militärbündnis Gefahr laufen würde, zerbrechlich zu sein. Es gelte nun,<lb/>
die verschiedenartigen Zollsysteme der beiden Länder einander derart anzunähern,<lb/>
daß eine Zollunion möglich werde, in die auch Luxemburg einzubeziehen sei.<lb/>
Wenn diese wirtschaftliche und diese Zollunion zustande komme, dann könnte man<lb/>
sagen, daß Frankreich und Belgien die Verträge von 1815 zerrissen haben, welche<lb/>
die beiden Länder, die die Natur aufeinander angewiesen hat, in brutaler Weise<lb/>
voneinander getrennt haben." Man beachte dabei wohl, daß es vornehmlich<lb/>
England war, das jene Verträge von 1815 in seinem eignen und Europas Interesse<lb/>
gegen die französische Begehrlichkeit errichtet hat. Am offenherzigsten betont im<lb/>
&#x201E;Journal" Samt Brice die Gegensätzlichkeit der englischen und französisch-belgischen<lb/>
Politik. &#x201E;England habe," so führt er des weiteren aus, &#x201E;im Grunde seines<lb/>
Herzens die Wiederherstellung der belgischen Neutralität gewünscht, jener Neutralität,<lb/>
die einstmals im Londoner Vertrage dem belgischen Staate auferlegt worden sei,<lb/>
um jedes direkte oder indirekte Vorrücken Frankreichs in den Niederlanden zu<lb/>
verhindern. Viele Engländer glaubten heute, die alten Zeiten seien wieder¬<lb/>
gekommen, Hamburg sei erledigt,- jetzt werde Antwerpen wieder der große<lb/>
Konkurrent von London. Daher verweigere man Belgien die freie Schelde-<lb/>
mündung und unterstütze die Ansprüche Hollands auf Limburg. In der militärischen<lb/>
Frage habe die englische Diplomatie nichts weiter angeboten als eine fünfjährige<lb/>
Garantie der belgischen Neutralität. Wenn gewisse furchtsame Leute den Abschluß<lb/>
des Bündnisses verzögert hätten, so hätte doch die Macht der Tatsachen sich<lb/>
schließlich durchgesetzt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1348"> Die Hemmungen, die sich in Belgien selbst, namentlich im vlämischen Lager,<lb/>
aber auch darüber hinaus, bei ehrlichen Verteidigern der belgischen Unabhängig¬<lb/>
keit, wohl auch bei zahlreichen Interessenten der wirtschaftlichen Selbständigkeit<lb/>
und des autonomen Zolltarifs den weitergehenden sanguinischen Hoffnungen der<lb/>
Franzosen entgegenstellen, sind der britischen Diplomatie natürlich nicht unbekannt<lb/>
und werden von ihr gebührend in Rechnung gestellt werden. Vielleicht glaubt<lb/>
sie dadurch trotz des militärischen Anfangserfolges der Gegenpartei das Spiel<lb/>
dauernd in der Hand behalten zu können, ohne daß es darüber zum Bruche mit<lb/>
Frankreich zu kommen brauchte, ähnlich wie in den ersten Zeiten Napoleons III.<lb/>
der englisch-französische Zusammenschluß gegenüber Nußland durch die notwendige<lb/>
Rücksicht, die der Kaiser auf seinen Verbündeten zu nehmen hatte, Belgien längere<lb/>
Zeit mehr als alles andre vor seiner Begehrlichkeit geschützt hat.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0355] Das französisch-belgische Militärabkommen darin das Vorspiel für politische und ökonomische Abkommen, die aus dieser strategischen Allianz ein wahrhaftes Bündnis machen werden." Deutlicher noch führt Gustave Hero6 in der „Victoire" aus: „Es handle sich jetzt darum, dieses defensive Militärbündnis durch eine wirtschaftliche Entente zu ergänzen, ohne die das Militärbündnis Gefahr laufen würde, zerbrechlich zu sein. Es gelte nun, die verschiedenartigen Zollsysteme der beiden Länder einander derart anzunähern, daß eine Zollunion möglich werde, in die auch Luxemburg einzubeziehen sei. Wenn diese wirtschaftliche und diese Zollunion zustande komme, dann könnte man sagen, daß Frankreich und Belgien die Verträge von 1815 zerrissen haben, welche die beiden Länder, die die Natur aufeinander angewiesen hat, in brutaler Weise voneinander getrennt haben." Man beachte dabei wohl, daß es vornehmlich England war, das jene Verträge von 1815 in seinem eignen und Europas Interesse gegen die französische Begehrlichkeit errichtet hat. Am offenherzigsten betont im „Journal" Samt Brice die Gegensätzlichkeit der englischen und französisch-belgischen Politik. „England habe," so führt er des weiteren aus, „im Grunde seines Herzens die Wiederherstellung der belgischen Neutralität gewünscht, jener Neutralität, die einstmals im Londoner Vertrage dem belgischen Staate auferlegt worden sei, um jedes direkte oder indirekte Vorrücken Frankreichs in den Niederlanden zu verhindern. Viele Engländer glaubten heute, die alten Zeiten seien wieder¬ gekommen, Hamburg sei erledigt,- jetzt werde Antwerpen wieder der große Konkurrent von London. Daher verweigere man Belgien die freie Schelde- mündung und unterstütze die Ansprüche Hollands auf Limburg. In der militärischen Frage habe die englische Diplomatie nichts weiter angeboten als eine fünfjährige Garantie der belgischen Neutralität. Wenn gewisse furchtsame Leute den Abschluß des Bündnisses verzögert hätten, so hätte doch die Macht der Tatsachen sich schließlich durchgesetzt." Die Hemmungen, die sich in Belgien selbst, namentlich im vlämischen Lager, aber auch darüber hinaus, bei ehrlichen Verteidigern der belgischen Unabhängig¬ keit, wohl auch bei zahlreichen Interessenten der wirtschaftlichen Selbständigkeit und des autonomen Zolltarifs den weitergehenden sanguinischen Hoffnungen der Franzosen entgegenstellen, sind der britischen Diplomatie natürlich nicht unbekannt und werden von ihr gebührend in Rechnung gestellt werden. Vielleicht glaubt sie dadurch trotz des militärischen Anfangserfolges der Gegenpartei das Spiel dauernd in der Hand behalten zu können, ohne daß es darüber zum Bruche mit Frankreich zu kommen brauchte, ähnlich wie in den ersten Zeiten Napoleons III. der englisch-französische Zusammenschluß gegenüber Nußland durch die notwendige Rücksicht, die der Kaiser auf seinen Verbündeten zu nehmen hatte, Belgien längere Zeit mehr als alles andre vor seiner Begehrlichkeit geschützt hat.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/355
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/355>, abgerufen am 22.07.2024.