Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Problem des praktischen Bolschewismus

der Mehrleistungen und ohne die Streckung der Vorräte, wohl kaum ausgereicht
haben, um den Gefahren der Unterproduktion siegreich zu begegnen.

In Rußland dagegen lagen die Dinge ganz anders. Die Entfernungen
sind hier so riesig, die verschiedenen Teile des Staates geographisch und kulturell
so ungleich, und hauptsächlich der Mangel an intelligenten und zuverlässigen
Kräften so enorm, daß eine Zwangswirtschaft hier unbedingt in ein fröhliches
Schiebertum ausarten mußte. Außerdem war ja die offizielle Wirtschaftspolitik
Rußlands von jeher auf den ökonomischen Individualismus, auf die Förderung
der Privatunternehmung eingestellt.

Unter solchen Umständen war das einzig Mögliche -- vielleicht auch das
einzig Richtige --, daß der autokratische Staat, in Übereinstimmung mit seiner
individualistischen Wirtschaftspolitik, die Unterproduktion mit individualistischen
Mitteln zu bekämpfen versuchte.

Dazu hätte vor allem gehört die Freigabe der Privatinitiative und die
automatische Prämiierung der Mehrleistung vermittels der natürlichen Aus¬
balancierung von Nachfrage und Angebot.

Der Zarismus hat aber von diesen individualistischen Mitteln bei der
Bekämpfung der Folgen der Unterproduktion keinen Gebrauch gemacht-
Höchstens in der Kriegsindustrie, wo die sozialistischen Methoden als Militari¬
sierung der Arbeit noch am leichtesten anwendbar waren, wurde ab und zu eine
individualistische Prämiierung der Mehrleistung schüchtern angewandt. Es wurde
also nur bei der unproduktiven Arbeit die Mehrleistung belohnt. Die sozialistisch
orientierte Zwangswirtschaft dagegen legte sich mit all ihrem zermalmenden
Druck auf die Landwirtschaft, also auf dasjenige Wirtschaftsgebiet, das bis dahin
noch am produktivsten geblieben war und dessen Produktionsmethoden durchaus
individualistisch sind.

Die agrare Zwangswirtschaft bewegte sich in durchaus negativen Formen-
Sie untersagte in vielem die Privatinitiative, ohne daß die entsprechenden
notwendigen Funktionen vom Staate übernommen worden wären; sie wurden
einfach lahmgelegt. So wurde z. B. durch das Getreidemonopol des Staates
der Saathandel eingeschränkt und der Verkehr auf diesem wichtigen Gebiete
-- insbesondere in den Gegenden nahe an der Front -- zur Aufgabe des Staates-
Doch meist blieben die Saatlieferungen ganz aus, oder aber sie erfolgten erst
Monate nach der verflossenen Saatzeit.

Außerdem war die Zwangswirtschaft einseitig: sie betraf nur die Land¬
wirtschaft. Arbeitszwang -- die Reversseite der Pflichtlieferungen -- bestand
nur für die Landwirtschaft als Unternehmung; dagegen die landwirtschaftlichen
Arbeiter waren von diesem Zwange befreit; sie hatten das Recht zu streiken-
Feste, dabei niedrige Preise galten nur für die landwirtschaftlichen Produkte!
die nichtlandwirtschaftlichen Erzeugnisse hatte der Landwirt im freien Handel
zu fortwährend steigenden Preisen zu erwerben.

Überhaupt wurde die Zwangswirtschaft in Rußland zu einem Ins^
mente, mit welchem der Staat aus der Landwirtschaft zugunsten der nicht
Produzierenden Klassen das Menschenmögliche herauspreßte. Der Staat trieb
Raubwirtschaft mit der Landwirtschaft und zwang damit letztere gleichfalls
zum Raubbau.


Das Problem des praktischen Bolschewismus

der Mehrleistungen und ohne die Streckung der Vorräte, wohl kaum ausgereicht
haben, um den Gefahren der Unterproduktion siegreich zu begegnen.

In Rußland dagegen lagen die Dinge ganz anders. Die Entfernungen
sind hier so riesig, die verschiedenen Teile des Staates geographisch und kulturell
so ungleich, und hauptsächlich der Mangel an intelligenten und zuverlässigen
Kräften so enorm, daß eine Zwangswirtschaft hier unbedingt in ein fröhliches
Schiebertum ausarten mußte. Außerdem war ja die offizielle Wirtschaftspolitik
Rußlands von jeher auf den ökonomischen Individualismus, auf die Förderung
der Privatunternehmung eingestellt.

Unter solchen Umständen war das einzig Mögliche — vielleicht auch das
einzig Richtige —, daß der autokratische Staat, in Übereinstimmung mit seiner
individualistischen Wirtschaftspolitik, die Unterproduktion mit individualistischen
Mitteln zu bekämpfen versuchte.

Dazu hätte vor allem gehört die Freigabe der Privatinitiative und die
automatische Prämiierung der Mehrleistung vermittels der natürlichen Aus¬
balancierung von Nachfrage und Angebot.

Der Zarismus hat aber von diesen individualistischen Mitteln bei der
Bekämpfung der Folgen der Unterproduktion keinen Gebrauch gemacht-
Höchstens in der Kriegsindustrie, wo die sozialistischen Methoden als Militari¬
sierung der Arbeit noch am leichtesten anwendbar waren, wurde ab und zu eine
individualistische Prämiierung der Mehrleistung schüchtern angewandt. Es wurde
also nur bei der unproduktiven Arbeit die Mehrleistung belohnt. Die sozialistisch
orientierte Zwangswirtschaft dagegen legte sich mit all ihrem zermalmenden
Druck auf die Landwirtschaft, also auf dasjenige Wirtschaftsgebiet, das bis dahin
noch am produktivsten geblieben war und dessen Produktionsmethoden durchaus
individualistisch sind.

Die agrare Zwangswirtschaft bewegte sich in durchaus negativen Formen-
Sie untersagte in vielem die Privatinitiative, ohne daß die entsprechenden
notwendigen Funktionen vom Staate übernommen worden wären; sie wurden
einfach lahmgelegt. So wurde z. B. durch das Getreidemonopol des Staates
der Saathandel eingeschränkt und der Verkehr auf diesem wichtigen Gebiete
— insbesondere in den Gegenden nahe an der Front — zur Aufgabe des Staates-
Doch meist blieben die Saatlieferungen ganz aus, oder aber sie erfolgten erst
Monate nach der verflossenen Saatzeit.

Außerdem war die Zwangswirtschaft einseitig: sie betraf nur die Land¬
wirtschaft. Arbeitszwang — die Reversseite der Pflichtlieferungen — bestand
nur für die Landwirtschaft als Unternehmung; dagegen die landwirtschaftlichen
Arbeiter waren von diesem Zwange befreit; sie hatten das Recht zu streiken-
Feste, dabei niedrige Preise galten nur für die landwirtschaftlichen Produkte!
die nichtlandwirtschaftlichen Erzeugnisse hatte der Landwirt im freien Handel
zu fortwährend steigenden Preisen zu erwerben.

Überhaupt wurde die Zwangswirtschaft in Rußland zu einem Ins^
mente, mit welchem der Staat aus der Landwirtschaft zugunsten der nicht
Produzierenden Klassen das Menschenmögliche herauspreßte. Der Staat trieb
Raubwirtschaft mit der Landwirtschaft und zwang damit letztere gleichfalls
zum Raubbau.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0298" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337939"/>
            <fw type="header" place="top"> Das Problem des praktischen Bolschewismus</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1089" prev="#ID_1088"> der Mehrleistungen und ohne die Streckung der Vorräte, wohl kaum ausgereicht<lb/>
haben, um den Gefahren der Unterproduktion siegreich zu begegnen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1090"> In Rußland dagegen lagen die Dinge ganz anders. Die Entfernungen<lb/>
sind hier so riesig, die verschiedenen Teile des Staates geographisch und kulturell<lb/>
so ungleich, und hauptsächlich der Mangel an intelligenten und zuverlässigen<lb/>
Kräften so enorm, daß eine Zwangswirtschaft hier unbedingt in ein fröhliches<lb/>
Schiebertum ausarten mußte. Außerdem war ja die offizielle Wirtschaftspolitik<lb/>
Rußlands von jeher auf den ökonomischen Individualismus, auf die Förderung<lb/>
der Privatunternehmung eingestellt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1091"> Unter solchen Umständen war das einzig Mögliche &#x2014; vielleicht auch das<lb/>
einzig Richtige &#x2014;, daß der autokratische Staat, in Übereinstimmung mit seiner<lb/>
individualistischen Wirtschaftspolitik, die Unterproduktion mit individualistischen<lb/>
Mitteln zu bekämpfen versuchte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1092"> Dazu hätte vor allem gehört die Freigabe der Privatinitiative und die<lb/>
automatische Prämiierung der Mehrleistung vermittels der natürlichen Aus¬<lb/>
balancierung von Nachfrage und Angebot.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1093"> Der Zarismus hat aber von diesen individualistischen Mitteln bei der<lb/>
Bekämpfung der Folgen der Unterproduktion keinen Gebrauch gemacht-<lb/>
Höchstens in der Kriegsindustrie, wo die sozialistischen Methoden als Militari¬<lb/>
sierung der Arbeit noch am leichtesten anwendbar waren, wurde ab und zu eine<lb/>
individualistische Prämiierung der Mehrleistung schüchtern angewandt. Es wurde<lb/>
also nur bei der unproduktiven Arbeit die Mehrleistung belohnt. Die sozialistisch<lb/>
orientierte Zwangswirtschaft dagegen legte sich mit all ihrem zermalmenden<lb/>
Druck auf die Landwirtschaft, also auf dasjenige Wirtschaftsgebiet, das bis dahin<lb/>
noch am produktivsten geblieben war und dessen Produktionsmethoden durchaus<lb/>
individualistisch sind.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1094"> Die agrare Zwangswirtschaft bewegte sich in durchaus negativen Formen-<lb/>
Sie untersagte in vielem die Privatinitiative, ohne daß die entsprechenden<lb/>
notwendigen Funktionen vom Staate übernommen worden wären; sie wurden<lb/>
einfach lahmgelegt. So wurde z. B. durch das Getreidemonopol des Staates<lb/>
der Saathandel eingeschränkt und der Verkehr auf diesem wichtigen Gebiete<lb/>
&#x2014; insbesondere in den Gegenden nahe an der Front &#x2014; zur Aufgabe des Staates-<lb/>
Doch meist blieben die Saatlieferungen ganz aus, oder aber sie erfolgten erst<lb/>
Monate nach der verflossenen Saatzeit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1095"> Außerdem war die Zwangswirtschaft einseitig: sie betraf nur die Land¬<lb/>
wirtschaft. Arbeitszwang &#x2014; die Reversseite der Pflichtlieferungen &#x2014; bestand<lb/>
nur für die Landwirtschaft als Unternehmung; dagegen die landwirtschaftlichen<lb/>
Arbeiter waren von diesem Zwange befreit; sie hatten das Recht zu streiken-<lb/>
Feste, dabei niedrige Preise galten nur für die landwirtschaftlichen Produkte!<lb/>
die nichtlandwirtschaftlichen Erzeugnisse hatte der Landwirt im freien Handel<lb/>
zu fortwährend steigenden Preisen zu erwerben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1096"> Überhaupt wurde die Zwangswirtschaft in Rußland zu einem Ins^<lb/>
mente, mit welchem der Staat aus der Landwirtschaft zugunsten der nicht<lb/>
Produzierenden Klassen das Menschenmögliche herauspreßte. Der Staat trieb<lb/>
Raubwirtschaft mit der Landwirtschaft und zwang damit letztere gleichfalls<lb/>
zum Raubbau.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0298] Das Problem des praktischen Bolschewismus der Mehrleistungen und ohne die Streckung der Vorräte, wohl kaum ausgereicht haben, um den Gefahren der Unterproduktion siegreich zu begegnen. In Rußland dagegen lagen die Dinge ganz anders. Die Entfernungen sind hier so riesig, die verschiedenen Teile des Staates geographisch und kulturell so ungleich, und hauptsächlich der Mangel an intelligenten und zuverlässigen Kräften so enorm, daß eine Zwangswirtschaft hier unbedingt in ein fröhliches Schiebertum ausarten mußte. Außerdem war ja die offizielle Wirtschaftspolitik Rußlands von jeher auf den ökonomischen Individualismus, auf die Förderung der Privatunternehmung eingestellt. Unter solchen Umständen war das einzig Mögliche — vielleicht auch das einzig Richtige —, daß der autokratische Staat, in Übereinstimmung mit seiner individualistischen Wirtschaftspolitik, die Unterproduktion mit individualistischen Mitteln zu bekämpfen versuchte. Dazu hätte vor allem gehört die Freigabe der Privatinitiative und die automatische Prämiierung der Mehrleistung vermittels der natürlichen Aus¬ balancierung von Nachfrage und Angebot. Der Zarismus hat aber von diesen individualistischen Mitteln bei der Bekämpfung der Folgen der Unterproduktion keinen Gebrauch gemacht- Höchstens in der Kriegsindustrie, wo die sozialistischen Methoden als Militari¬ sierung der Arbeit noch am leichtesten anwendbar waren, wurde ab und zu eine individualistische Prämiierung der Mehrleistung schüchtern angewandt. Es wurde also nur bei der unproduktiven Arbeit die Mehrleistung belohnt. Die sozialistisch orientierte Zwangswirtschaft dagegen legte sich mit all ihrem zermalmenden Druck auf die Landwirtschaft, also auf dasjenige Wirtschaftsgebiet, das bis dahin noch am produktivsten geblieben war und dessen Produktionsmethoden durchaus individualistisch sind. Die agrare Zwangswirtschaft bewegte sich in durchaus negativen Formen- Sie untersagte in vielem die Privatinitiative, ohne daß die entsprechenden notwendigen Funktionen vom Staate übernommen worden wären; sie wurden einfach lahmgelegt. So wurde z. B. durch das Getreidemonopol des Staates der Saathandel eingeschränkt und der Verkehr auf diesem wichtigen Gebiete — insbesondere in den Gegenden nahe an der Front — zur Aufgabe des Staates- Doch meist blieben die Saatlieferungen ganz aus, oder aber sie erfolgten erst Monate nach der verflossenen Saatzeit. Außerdem war die Zwangswirtschaft einseitig: sie betraf nur die Land¬ wirtschaft. Arbeitszwang — die Reversseite der Pflichtlieferungen — bestand nur für die Landwirtschaft als Unternehmung; dagegen die landwirtschaftlichen Arbeiter waren von diesem Zwange befreit; sie hatten das Recht zu streiken- Feste, dabei niedrige Preise galten nur für die landwirtschaftlichen Produkte! die nichtlandwirtschaftlichen Erzeugnisse hatte der Landwirt im freien Handel zu fortwährend steigenden Preisen zu erwerben. Überhaupt wurde die Zwangswirtschaft in Rußland zu einem Ins^ mente, mit welchem der Staat aus der Landwirtschaft zugunsten der nicht Produzierenden Klassen das Menschenmögliche herauspreßte. Der Staat trieb Raubwirtschaft mit der Landwirtschaft und zwang damit letztere gleichfalls zum Raubbau.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/298
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/298>, abgerufen am 22.07.2024.