Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Lyrik

England und George bei uns, erfaßt haben) auch das Dcmtesche Weltbild und seine
geistesgeschichtlichen Voraussetzungen sieht.

Diese drei Dinge: Stilbewußtsein, Traditionsbewußtsein, verantwortungs¬
bewußtes dichterisches Ethos bestimmen auch das Jugendwerk des Dichters, das
wir heute betrachten. Seine Sprache ist von vollem, dunklem Klang, tönend von
der Fülle der Gesichte und Bilder, an- und abschwellend von strahlender Freude zu
brennender Qual, von zartester Werbung zu schweren: Zom, eine Sprache aus
Marmor und Erz, lang nachhallend, feierlich, königlich. Und diese Sprache erschafft
aus sich neu die adligen Formen früherer lyrischer Kulturen: die sechs großen
Elegien erneuern die griechische distichische Elegie, die Terzine und die Stanze.
Dazu treten das Sonett, dessen Erstarrung seit Goethe nie so ins Leben gerufen
wurde, die Ballade (des alten romanischen Typus), die Scheine, die hier zum ersten¬
mal mit deutschem Sprachgeist erfüllt ist, der Vers der attischen Tragödie und ein
herrliches Tagelied, das zu den vollendetsten Stücken der ganzen Sammlung gehört.
Alle diese Gedichte und mit ihnen die in freier, nicht überlieferter Form geschaffenen
(welche Strenge in ihrer Gelöstheit wohnt, das ermesse man etwa an dem wunder¬
vollen "Traurigen Besuch") werden so stark vom Drängen der Leidenschaft, ge¬
bändigt durch die Zucht lauterster Form, getragen, daß ihre Wirkung Katharsis ist.
Reinigende Kraft geht von ihnen aus, am stärksten vielleicht da, wo sie selber, cyklisch
zusammengeschlossen, Stadien auf einem Wege der Läuterung durch Passion anzeigen,
wie in den beiden Cyklen "Autumnus" und "Lieder aus den drei Tagen".

Es wäre umsonst, viel zum Lobe dieser Dichtungen zu sagen. Sie bedeuten
in unserer Gegenwart, der eine Dichtung von strenger Form, von geistiger Einheit,
in der Ursprünglichkeit und Tradition verschmelzen, not tut, eine Tat von hervor¬
ragender Bedeutung, die uns nicht wieder aus dem Bewußtsein schwinden darf.
Hoffentlich ist es uns bald möglich, sie im Zusammenhang des Gesamtschaffens des
Dichters zu sehen.

Zum Schlüsse diene eines seiner Sonette als Zeugnis seiner Sprachgewalt
und der tiefen, ernst-freundlichen Weihe, in der die Bewegung des persönlichen
Lebens auf die Mitte gütig-vertrauter Mächte hingelenkt wird, das Sonett
"Hausgeist".

Winter kam heute in mein Haus und sang:,
"O kalter Herd und Kammern ohne Licht!
Gramvolle Lippe! schweigendes Gesicht!
Friedloses Herz, ist dir vor Frieden bang?"
So freundlich sprach er, und ich wehrte nicht,
Daß er mit seinem Mantel mich umschlang,
An Sommer Gärten gingen wir entlang,
Schnee schlief auf ihnen und die Nacht war dicht --
-- Ward Licht den Augen, die dein Auge traf
Verschwiegener Leiden ahnungsvoll vertraulich:
Ward Augen hold, die du so milde maßest.
Ward gut, wo du dem Lied der Glut beschaulich
Lauschend, in dich hineingeneigt dasaßest,
Hausgeist, am Herde, zwischen Tag und Schlaf.



Neue Lyrik

England und George bei uns, erfaßt haben) auch das Dcmtesche Weltbild und seine
geistesgeschichtlichen Voraussetzungen sieht.

Diese drei Dinge: Stilbewußtsein, Traditionsbewußtsein, verantwortungs¬
bewußtes dichterisches Ethos bestimmen auch das Jugendwerk des Dichters, das
wir heute betrachten. Seine Sprache ist von vollem, dunklem Klang, tönend von
der Fülle der Gesichte und Bilder, an- und abschwellend von strahlender Freude zu
brennender Qual, von zartester Werbung zu schweren: Zom, eine Sprache aus
Marmor und Erz, lang nachhallend, feierlich, königlich. Und diese Sprache erschafft
aus sich neu die adligen Formen früherer lyrischer Kulturen: die sechs großen
Elegien erneuern die griechische distichische Elegie, die Terzine und die Stanze.
Dazu treten das Sonett, dessen Erstarrung seit Goethe nie so ins Leben gerufen
wurde, die Ballade (des alten romanischen Typus), die Scheine, die hier zum ersten¬
mal mit deutschem Sprachgeist erfüllt ist, der Vers der attischen Tragödie und ein
herrliches Tagelied, das zu den vollendetsten Stücken der ganzen Sammlung gehört.
Alle diese Gedichte und mit ihnen die in freier, nicht überlieferter Form geschaffenen
(welche Strenge in ihrer Gelöstheit wohnt, das ermesse man etwa an dem wunder¬
vollen „Traurigen Besuch") werden so stark vom Drängen der Leidenschaft, ge¬
bändigt durch die Zucht lauterster Form, getragen, daß ihre Wirkung Katharsis ist.
Reinigende Kraft geht von ihnen aus, am stärksten vielleicht da, wo sie selber, cyklisch
zusammengeschlossen, Stadien auf einem Wege der Läuterung durch Passion anzeigen,
wie in den beiden Cyklen „Autumnus" und „Lieder aus den drei Tagen".

Es wäre umsonst, viel zum Lobe dieser Dichtungen zu sagen. Sie bedeuten
in unserer Gegenwart, der eine Dichtung von strenger Form, von geistiger Einheit,
in der Ursprünglichkeit und Tradition verschmelzen, not tut, eine Tat von hervor¬
ragender Bedeutung, die uns nicht wieder aus dem Bewußtsein schwinden darf.
Hoffentlich ist es uns bald möglich, sie im Zusammenhang des Gesamtschaffens des
Dichters zu sehen.

Zum Schlüsse diene eines seiner Sonette als Zeugnis seiner Sprachgewalt
und der tiefen, ernst-freundlichen Weihe, in der die Bewegung des persönlichen
Lebens auf die Mitte gütig-vertrauter Mächte hingelenkt wird, das Sonett
„Hausgeist".

Winter kam heute in mein Haus und sang:,
„O kalter Herd und Kammern ohne Licht!
Gramvolle Lippe! schweigendes Gesicht!
Friedloses Herz, ist dir vor Frieden bang?"
So freundlich sprach er, und ich wehrte nicht,
Daß er mit seinem Mantel mich umschlang,
An Sommer Gärten gingen wir entlang,
Schnee schlief auf ihnen und die Nacht war dicht —
— Ward Licht den Augen, die dein Auge traf
Verschwiegener Leiden ahnungsvoll vertraulich:
Ward Augen hold, die du so milde maßest.
Ward gut, wo du dem Lied der Glut beschaulich
Lauschend, in dich hineingeneigt dasaßest,
Hausgeist, am Herde, zwischen Tag und Schlaf.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/337887"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Lyrik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_886" prev="#ID_885"> England und George bei uns, erfaßt haben) auch das Dcmtesche Weltbild und seine<lb/>
geistesgeschichtlichen Voraussetzungen sieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_887"> Diese drei Dinge: Stilbewußtsein, Traditionsbewußtsein, verantwortungs¬<lb/>
bewußtes dichterisches Ethos bestimmen auch das Jugendwerk des Dichters, das<lb/>
wir heute betrachten. Seine Sprache ist von vollem, dunklem Klang, tönend von<lb/>
der Fülle der Gesichte und Bilder, an- und abschwellend von strahlender Freude zu<lb/>
brennender Qual, von zartester Werbung zu schweren: Zom, eine Sprache aus<lb/>
Marmor und Erz, lang nachhallend, feierlich, königlich. Und diese Sprache erschafft<lb/>
aus sich neu die adligen Formen früherer lyrischer Kulturen: die sechs großen<lb/>
Elegien erneuern die griechische distichische Elegie, die Terzine und die Stanze.<lb/>
Dazu treten das Sonett, dessen Erstarrung seit Goethe nie so ins Leben gerufen<lb/>
wurde, die Ballade (des alten romanischen Typus), die Scheine, die hier zum ersten¬<lb/>
mal mit deutschem Sprachgeist erfüllt ist, der Vers der attischen Tragödie und ein<lb/>
herrliches Tagelied, das zu den vollendetsten Stücken der ganzen Sammlung gehört.<lb/>
Alle diese Gedichte und mit ihnen die in freier, nicht überlieferter Form geschaffenen<lb/>
(welche Strenge in ihrer Gelöstheit wohnt, das ermesse man etwa an dem wunder¬<lb/>
vollen &#x201E;Traurigen Besuch") werden so stark vom Drängen der Leidenschaft, ge¬<lb/>
bändigt durch die Zucht lauterster Form, getragen, daß ihre Wirkung Katharsis ist.<lb/>
Reinigende Kraft geht von ihnen aus, am stärksten vielleicht da, wo sie selber, cyklisch<lb/>
zusammengeschlossen, Stadien auf einem Wege der Läuterung durch Passion anzeigen,<lb/>
wie in den beiden Cyklen &#x201E;Autumnus" und &#x201E;Lieder aus den drei Tagen".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_888"> Es wäre umsonst, viel zum Lobe dieser Dichtungen zu sagen. Sie bedeuten<lb/>
in unserer Gegenwart, der eine Dichtung von strenger Form, von geistiger Einheit,<lb/>
in der Ursprünglichkeit und Tradition verschmelzen, not tut, eine Tat von hervor¬<lb/>
ragender Bedeutung, die uns nicht wieder aus dem Bewußtsein schwinden darf.<lb/>
Hoffentlich ist es uns bald möglich, sie im Zusammenhang des Gesamtschaffens des<lb/>
Dichters zu sehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_889"> Zum Schlüsse diene eines seiner Sonette als Zeugnis seiner Sprachgewalt<lb/>
und der tiefen, ernst-freundlichen Weihe, in der die Bewegung des persönlichen<lb/>
Lebens auf die Mitte gütig-vertrauter Mächte hingelenkt wird, das Sonett<lb/>
&#x201E;Hausgeist".</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_12" type="poem">
            <l> Winter kam heute in mein Haus und sang:,<lb/>
&#x201E;O kalter Herd und Kammern ohne Licht!<lb/>
Gramvolle Lippe! schweigendes Gesicht!<lb/>
Friedloses Herz, ist dir vor Frieden bang?"<lb/>
So freundlich sprach er, und ich wehrte nicht,<lb/>
Daß er mit seinem Mantel mich umschlang,<lb/>
An Sommer Gärten gingen wir entlang,<lb/>
Schnee schlief auf ihnen und die Nacht war dicht &#x2014;</l>
            <l> &#x2014; Ward Licht den Augen, die dein Auge traf<lb/>
Verschwiegener Leiden ahnungsvoll vertraulich:<lb/>
Ward Augen hold, die du so milde maßest.<lb/>
Ward gut, wo du dem Lied der Glut beschaulich<lb/>
Lauschend, in dich hineingeneigt dasaßest,<lb/>
Hausgeist, am Herde, zwischen Tag und Schlaf.</l>
          </lg><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0246] Neue Lyrik England und George bei uns, erfaßt haben) auch das Dcmtesche Weltbild und seine geistesgeschichtlichen Voraussetzungen sieht. Diese drei Dinge: Stilbewußtsein, Traditionsbewußtsein, verantwortungs¬ bewußtes dichterisches Ethos bestimmen auch das Jugendwerk des Dichters, das wir heute betrachten. Seine Sprache ist von vollem, dunklem Klang, tönend von der Fülle der Gesichte und Bilder, an- und abschwellend von strahlender Freude zu brennender Qual, von zartester Werbung zu schweren: Zom, eine Sprache aus Marmor und Erz, lang nachhallend, feierlich, königlich. Und diese Sprache erschafft aus sich neu die adligen Formen früherer lyrischer Kulturen: die sechs großen Elegien erneuern die griechische distichische Elegie, die Terzine und die Stanze. Dazu treten das Sonett, dessen Erstarrung seit Goethe nie so ins Leben gerufen wurde, die Ballade (des alten romanischen Typus), die Scheine, die hier zum ersten¬ mal mit deutschem Sprachgeist erfüllt ist, der Vers der attischen Tragödie und ein herrliches Tagelied, das zu den vollendetsten Stücken der ganzen Sammlung gehört. Alle diese Gedichte und mit ihnen die in freier, nicht überlieferter Form geschaffenen (welche Strenge in ihrer Gelöstheit wohnt, das ermesse man etwa an dem wunder¬ vollen „Traurigen Besuch") werden so stark vom Drängen der Leidenschaft, ge¬ bändigt durch die Zucht lauterster Form, getragen, daß ihre Wirkung Katharsis ist. Reinigende Kraft geht von ihnen aus, am stärksten vielleicht da, wo sie selber, cyklisch zusammengeschlossen, Stadien auf einem Wege der Läuterung durch Passion anzeigen, wie in den beiden Cyklen „Autumnus" und „Lieder aus den drei Tagen". Es wäre umsonst, viel zum Lobe dieser Dichtungen zu sagen. Sie bedeuten in unserer Gegenwart, der eine Dichtung von strenger Form, von geistiger Einheit, in der Ursprünglichkeit und Tradition verschmelzen, not tut, eine Tat von hervor¬ ragender Bedeutung, die uns nicht wieder aus dem Bewußtsein schwinden darf. Hoffentlich ist es uns bald möglich, sie im Zusammenhang des Gesamtschaffens des Dichters zu sehen. Zum Schlüsse diene eines seiner Sonette als Zeugnis seiner Sprachgewalt und der tiefen, ernst-freundlichen Weihe, in der die Bewegung des persönlichen Lebens auf die Mitte gütig-vertrauter Mächte hingelenkt wird, das Sonett „Hausgeist". Winter kam heute in mein Haus und sang:, „O kalter Herd und Kammern ohne Licht! Gramvolle Lippe! schweigendes Gesicht! Friedloses Herz, ist dir vor Frieden bang?" So freundlich sprach er, und ich wehrte nicht, Daß er mit seinem Mantel mich umschlang, An Sommer Gärten gingen wir entlang, Schnee schlief auf ihnen und die Nacht war dicht — — Ward Licht den Augen, die dein Auge traf Verschwiegener Leiden ahnungsvoll vertraulich: Ward Augen hold, die du so milde maßest. Ward gut, wo du dem Lied der Glut beschaulich Lauschend, in dich hineingeneigt dasaßest, Hausgeist, am Herde, zwischen Tag und Schlaf.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/246
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/246>, abgerufen am 01.07.2024.