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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Bismarcks Entlassung
Professor Dr. Fritz Härtung von

le Katastrophe des März 1890 erscheint uns heute als der erste Akt
der Tragödie, die das Deutsche Reich über den November des Jahres
1918 bis zum Frieden von Versailles geführt hat. Der Schleier,
der zunächst über die Vorgänge jener Zeit gebreitet war, hat sich
allmählich gelichtet. Bismarck selbst hat sich freilich in der Öffent¬
lichkeit über die Gründe seines Rücktritts nicht ausgesprochen; der Kaiser und die
Männer des neuen Kurses fanden erst recht keinen Anlaß, sich darüber zu äußern.
Erst nach Bismarcks Tode wurde sein Abschiedsgesuch bekannt gegeben. 1906
ließ uns Hohenlohe einen Blick hinter die Kulissen tun, gerade weit genug, um
Phantasiebegabte Gelehrte zu kühnen Vermutungen anzuregen, nicht weit genug,
um die Verknüpfung des Knotens zu erkennen. Nüchterne Forschung von Egel-
haaf und Thinae hat uns unter Benutzung neueren Materials wieder auf den
festen Boden der Tatsachen gestellt. Der neuen Zeit, die mit dem 9. November 1918
über uns hereingebrochen ist, verdanken wir weiteres wertvolles Quellenmaterial,
die Briefe Wilhelms des Zweiten an Kaiser Franz Joseph vom 3. und 12. April
1890 und die mit interessanten Anlagen ausgestatteten Aufzeichnungen des Herrn
von Bötticher, der als Vizepräsident des Staatsministeriums und als Staatssekretär
des Reichsamts des Innern die Dinge aus nächster Nähe mit angesehen, vielleicht
auch -- diese Möglichkeit bleibt bestehen, denn seine Darstellung übergeht manches
mit Schweigen -- mit beeinflußt hat.^) So kann heute, obwohl der dritte Band
der Gedanken und Erinnerungen uns noch vorenthalten wird, der Verlauf der
Krisis schon mit genügender Sicherheit dargestellt werden.

Unmittelbar nach seiner Thronbesteigung hatte Wilhelm der Zweite Bismarck ge¬
beten, im Amt zu bleiben, so lange Leben und Gesundheit es ihm gestatten würden,
und Bismarck hatte ihm versprochen, nicht von seiner Seite zu weichen. Das
war auf beiden Seiten zweifellos ehrlich gemeint. Denn Wühreud-Friedrich der Dritte
zu der liberalen Generation gehörte, die dem Bismarckschen Machtstaat immer ab-



i) Fürst Bismarcks Entlassung, herausgegeben von G. von Eppstein, Berlin lScherl).
Grenzboten II 1920 1


Bismarcks Entlassung
Professor Dr. Fritz Härtung von

le Katastrophe des März 1890 erscheint uns heute als der erste Akt
der Tragödie, die das Deutsche Reich über den November des Jahres
1918 bis zum Frieden von Versailles geführt hat. Der Schleier,
der zunächst über die Vorgänge jener Zeit gebreitet war, hat sich
allmählich gelichtet. Bismarck selbst hat sich freilich in der Öffent¬
lichkeit über die Gründe seines Rücktritts nicht ausgesprochen; der Kaiser und die
Männer des neuen Kurses fanden erst recht keinen Anlaß, sich darüber zu äußern.
Erst nach Bismarcks Tode wurde sein Abschiedsgesuch bekannt gegeben. 1906
ließ uns Hohenlohe einen Blick hinter die Kulissen tun, gerade weit genug, um
Phantasiebegabte Gelehrte zu kühnen Vermutungen anzuregen, nicht weit genug,
um die Verknüpfung des Knotens zu erkennen. Nüchterne Forschung von Egel-
haaf und Thinae hat uns unter Benutzung neueren Materials wieder auf den
festen Boden der Tatsachen gestellt. Der neuen Zeit, die mit dem 9. November 1918
über uns hereingebrochen ist, verdanken wir weiteres wertvolles Quellenmaterial,
die Briefe Wilhelms des Zweiten an Kaiser Franz Joseph vom 3. und 12. April
1890 und die mit interessanten Anlagen ausgestatteten Aufzeichnungen des Herrn
von Bötticher, der als Vizepräsident des Staatsministeriums und als Staatssekretär
des Reichsamts des Innern die Dinge aus nächster Nähe mit angesehen, vielleicht
auch — diese Möglichkeit bleibt bestehen, denn seine Darstellung übergeht manches
mit Schweigen — mit beeinflußt hat.^) So kann heute, obwohl der dritte Band
der Gedanken und Erinnerungen uns noch vorenthalten wird, der Verlauf der
Krisis schon mit genügender Sicherheit dargestellt werden.

Unmittelbar nach seiner Thronbesteigung hatte Wilhelm der Zweite Bismarck ge¬
beten, im Amt zu bleiben, so lange Leben und Gesundheit es ihm gestatten würden,
und Bismarck hatte ihm versprochen, nicht von seiner Seite zu weichen. Das
war auf beiden Seiten zweifellos ehrlich gemeint. Denn Wühreud-Friedrich der Dritte
zu der liberalen Generation gehörte, die dem Bismarckschen Machtstaat immer ab-



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/7>, abgerufen am 22.07.2024.