Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.Aegypten Sommers dem "Temps" zufolge das Besatzungsheer selbst sich als nicht durchweg Inzwischen bearbeitet Zaglul vou Paris aus, trotz strengster Bewachung Daß bei dieser Sachlage etwas und zwar bald geschehen muß, daß es 4^
Aegypten Sommers dem „Temps" zufolge das Besatzungsheer selbst sich als nicht durchweg Inzwischen bearbeitet Zaglul vou Paris aus, trotz strengster Bewachung Daß bei dieser Sachlage etwas und zwar bald geschehen muß, daß es 4^
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336341"/> <fw type="header" place="top"> Aegypten</fw><lb/> <p xml:id="ID_160" prev="#ID_159"> Sommers dem „Temps" zufolge das Besatzungsheer selbst sich als nicht durchweg<lb/> zuverlässig erwies und hier und da sogar Soldatenräte die Herrschaft an sich<lb/> rissen. Die Ägypter aber versuchten es jetzt mit einer anderen Methode. Eine<lb/> Menge geheimer Verbände bildeten sich und unvermutet brachen, besonders in<lb/> Kairo und Alexandrien, Streiks aus. Bald waren es die Hafenarbeiter, bald die<lb/> Trambahner, bald die Kellner. Alle möglichen Berufe, Kutscher, Zeituugsverkäufer,<lb/> Schneider, Diener, Hausmeister, organisierten sich in Syndikaten, ließen durch<lb/> einen der vielen Advokaten mit streng nationalistischen Anschauungen eine Liste<lb/> von gerechtfertigten und unsinnigen Forderungen aufstellen und drohten bei Nicht¬<lb/> erfüllung mit Streiks. In Kairo selbst hat sich unter Aufsicht eines sehr<lb/> unbequemen Jtalieners und landfremder anarchistischer Elemente eine Arbeits¬<lb/> börse gebildet, die die allgemeine Erregung durch emphatische Manifeste mit<lb/> bolschewistischer Färbung zu schüren bestrebt ist. Die Negierung erweist sich als<lb/> machtlos oder stellt sich so, weil es bereits recht gefährlich geworden ist, englische<lb/> Interessen zu vertreten. Auch auf den Eisenbahnen haben sich schon Streik¬<lb/> bewegungen bemerkbar gemacht, und der Korrespondent der „Morning Post"<lb/> vorn 5. September befürchtet fogar einen Generalstreik. Im allgemeinen drehen<lb/> sich die Forderungen weniger um Löhne als um Anerkennung der Syndikate<lb/> durch die Unternehmer, wodurch die Macht der nationalistischen Führer allerdings<lb/> einen bedrohlichen Zuwachs erhalten würde.</p><lb/> <p xml:id="ID_161"> Inzwischen bearbeitet Zaglul vou Paris aus, trotz strengster Bewachung<lb/> durch die Engländer, die Parlamente der Westmächie, und nutzt besonders in<lb/> Frankreich die auf die Veröffentlichung des englisch.persischen Abkommens ent¬<lb/> standene Unzufriedenheit mit dem unersättlichen Alliierten kräftig aus. Ab und<lb/> zu läßt er aufregende Nachrichten über seine Erfolge verbreiten, z. V. jene, daß<lb/> der Ausschuß des amerikanischen Senats die Unabhängigkeit Ägyptens erklärt<lb/> habe, eine Kunde, die in Ägypten unbeschreiblichen Jubel hervorrief und der gegen¬<lb/> über ein alsbald und zu Recht erfolgtes Dementi so machtlos war, daß eine<lb/> sogleich vorgenommene Sammlung zur Unterstützung rationalistischer Interessen<lb/> binnen acht Tagen 80 00V Pfund Sterling ergab. Der Ton der ägyptischen<lb/> Presse wurde sofort anmaßender und die englischen Soldaten erhielten den Befehl,<lb/> nur noch bewaffnet auszugehen. Dazu kommt in jüngster Zeit noch eine<lb/> bedrohliche durch Festsetzung von Höchstpreisen entstandene Lebensmittelkrisis.<lb/> Der Ernst und der Umfang der ganzen Bewegung sind noch durch zwei Tatsachen<lb/> belegt: bereits im Januar fand in Kairo eine öffentliche Straßendemonstration<lb/> von'20 000 Frauen statt, ein im Orient gewiß außergewöhnlicher Vorgang, und<lb/> jüngst haben sich sogar die christlichen Kopten der Unabhängkeitsbewegung<lb/> angeschlossen.</p><lb/> <p xml:id="ID_162" next="#ID_163"> Daß bei dieser Sachlage etwas und zwar bald geschehen muß, daß es<lb/> unmöglich ist, das große Land auf die Dauer stark besetzt zu halten, ist auch den<lb/> Engländern klar. Daß man eine wirkliche Unabhängigkeit nicht zulassen wird<lb/> ist gewiß. „Wir müssen", schrieb die „Times", „dem ägyptischen Studenten mit<lb/> warmen Worten klar machen, daß wir seinen Standpunkt voll zu würdigen<lb/> wissen, daß wir seine Unruhe begreifen, und daß unsere wohlüberlegte Antwort<lb/> lautet: Nein". Das reine Nationalilütcnprinzip, erklärt daS Blatt dann weiter,<lb/> ist durch die Mandatdvktrin und die Anerkennung des Vormundschaftsrechts ein-<lb/> geschränkt. Der Erfolg eines Maubads wird dadurch deutlich, daß das Mündel<lb/> einmal fähig wird, einen eigenen Platz im Völkerbund einzunehmen. „Und da<lb/> wir mehr und mehr dahin' gelangen, das Britische Reich als einen unauf¬<lb/> löslichen Bund freier Nationen innerhalb des Völkerbundes, sozusagen als eme<lb/> Konstellation innerhalb des Systems aufzufassen, so muß es unsere erste Aufgabe<lb/> sein, unsere Mündel zu befähigen, ihren Platz als freie Natron innerhalb des<lb/> Britischen Reiches einzunehmen". Da die Freiheitsliebe der Ägypter aber noch<lb/> nicht groß genug ist, daß sie aus eigener Kraft ihr Reich gegenüber zedem<lb/> Dritten verteidigen möchten, so muß natürlich die englische Garnison in Ägyptens<lb/> eigenem Interesse im Lande bleiben. Auch das Zutrauen in eine nationale</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 4^</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0051]
Aegypten
Sommers dem „Temps" zufolge das Besatzungsheer selbst sich als nicht durchweg
zuverlässig erwies und hier und da sogar Soldatenräte die Herrschaft an sich
rissen. Die Ägypter aber versuchten es jetzt mit einer anderen Methode. Eine
Menge geheimer Verbände bildeten sich und unvermutet brachen, besonders in
Kairo und Alexandrien, Streiks aus. Bald waren es die Hafenarbeiter, bald die
Trambahner, bald die Kellner. Alle möglichen Berufe, Kutscher, Zeituugsverkäufer,
Schneider, Diener, Hausmeister, organisierten sich in Syndikaten, ließen durch
einen der vielen Advokaten mit streng nationalistischen Anschauungen eine Liste
von gerechtfertigten und unsinnigen Forderungen aufstellen und drohten bei Nicht¬
erfüllung mit Streiks. In Kairo selbst hat sich unter Aufsicht eines sehr
unbequemen Jtalieners und landfremder anarchistischer Elemente eine Arbeits¬
börse gebildet, die die allgemeine Erregung durch emphatische Manifeste mit
bolschewistischer Färbung zu schüren bestrebt ist. Die Negierung erweist sich als
machtlos oder stellt sich so, weil es bereits recht gefährlich geworden ist, englische
Interessen zu vertreten. Auch auf den Eisenbahnen haben sich schon Streik¬
bewegungen bemerkbar gemacht, und der Korrespondent der „Morning Post"
vorn 5. September befürchtet fogar einen Generalstreik. Im allgemeinen drehen
sich die Forderungen weniger um Löhne als um Anerkennung der Syndikate
durch die Unternehmer, wodurch die Macht der nationalistischen Führer allerdings
einen bedrohlichen Zuwachs erhalten würde.
Inzwischen bearbeitet Zaglul vou Paris aus, trotz strengster Bewachung
durch die Engländer, die Parlamente der Westmächie, und nutzt besonders in
Frankreich die auf die Veröffentlichung des englisch.persischen Abkommens ent¬
standene Unzufriedenheit mit dem unersättlichen Alliierten kräftig aus. Ab und
zu läßt er aufregende Nachrichten über seine Erfolge verbreiten, z. V. jene, daß
der Ausschuß des amerikanischen Senats die Unabhängigkeit Ägyptens erklärt
habe, eine Kunde, die in Ägypten unbeschreiblichen Jubel hervorrief und der gegen¬
über ein alsbald und zu Recht erfolgtes Dementi so machtlos war, daß eine
sogleich vorgenommene Sammlung zur Unterstützung rationalistischer Interessen
binnen acht Tagen 80 00V Pfund Sterling ergab. Der Ton der ägyptischen
Presse wurde sofort anmaßender und die englischen Soldaten erhielten den Befehl,
nur noch bewaffnet auszugehen. Dazu kommt in jüngster Zeit noch eine
bedrohliche durch Festsetzung von Höchstpreisen entstandene Lebensmittelkrisis.
Der Ernst und der Umfang der ganzen Bewegung sind noch durch zwei Tatsachen
belegt: bereits im Januar fand in Kairo eine öffentliche Straßendemonstration
von'20 000 Frauen statt, ein im Orient gewiß außergewöhnlicher Vorgang, und
jüngst haben sich sogar die christlichen Kopten der Unabhängkeitsbewegung
angeschlossen.
Daß bei dieser Sachlage etwas und zwar bald geschehen muß, daß es
unmöglich ist, das große Land auf die Dauer stark besetzt zu halten, ist auch den
Engländern klar. Daß man eine wirkliche Unabhängigkeit nicht zulassen wird
ist gewiß. „Wir müssen", schrieb die „Times", „dem ägyptischen Studenten mit
warmen Worten klar machen, daß wir seinen Standpunkt voll zu würdigen
wissen, daß wir seine Unruhe begreifen, und daß unsere wohlüberlegte Antwort
lautet: Nein". Das reine Nationalilütcnprinzip, erklärt daS Blatt dann weiter,
ist durch die Mandatdvktrin und die Anerkennung des Vormundschaftsrechts ein-
geschränkt. Der Erfolg eines Maubads wird dadurch deutlich, daß das Mündel
einmal fähig wird, einen eigenen Platz im Völkerbund einzunehmen. „Und da
wir mehr und mehr dahin' gelangen, das Britische Reich als einen unauf¬
löslichen Bund freier Nationen innerhalb des Völkerbundes, sozusagen als eme
Konstellation innerhalb des Systems aufzufassen, so muß es unsere erste Aufgabe
sein, unsere Mündel zu befähigen, ihren Platz als freie Natron innerhalb des
Britischen Reiches einzunehmen". Da die Freiheitsliebe der Ägypter aber noch
nicht groß genug ist, daß sie aus eigener Kraft ihr Reich gegenüber zedem
Dritten verteidigen möchten, so muß natürlich die englische Garnison in Ägyptens
eigenem Interesse im Lande bleiben. Auch das Zutrauen in eine nationale
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