Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.England mehr ins Gedränge zu geraten, die Koalition ruhig noch eine Weile weiter Scheint also infolge der Sozialistengefahr der Bestand der Koalition noch Aber die Verlegenheiten der englischen Regierung sind damit nicht erschöpft. 20"
England mehr ins Gedränge zu geraten, die Koalition ruhig noch eine Weile weiter Scheint also infolge der Sozialistengefahr der Bestand der Koalition noch Aber die Verlegenheiten der englischen Regierung sind damit nicht erschöpft. 20»
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/336541"/> <fw type="header" place="top"> England</fw><lb/> <p xml:id="ID_928" prev="#ID_927"> mehr ins Gedränge zu geraten, die Koalition ruhig noch eine Weile weiter<lb/> stützen, und es wäre, falls die Extremisten unter den Sozialisten doch noch einmal<lb/> wieder die Oberhand bekämen, nicht ausgeschlossen, daß die nächsten Wahlen<lb/> innerpolitisch ähnlich wie jetzt in Frankreich unter dem Schlagwort für oder<lb/> Wider den Bolschewismus gemacht werden, was die Stellung der Sozialisten nicht<lb/> gerade stärken würde. Innerhalb dieser großen Grundlinien erscheint der Erfolg<lb/> der Arbeiter bei den Gemeindewahlen nur als Episode, besonders da er auf<lb/> Wahlfaulheit der Bürgerlichen beruht. Aber gerade diese Faulheit beweist doch<lb/> auch, wie geringe Bedeutung den Gemeindewahlen zuerkannt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_929"> Scheint also infolge der Sozialistengefahr der Bestand der Koalition noch<lb/> bis auf weiteres nicht ernstlich gefährdet, so bleiben doch auch alle mit ihrer<lb/> Existenz verbundenen Nützlichkeiten bestehen. Lloyd George ist weiter auf sich<lb/> gestellt, kann aber in wichtigen Fragen keinen entschiedenen Schritt tun, ohne die<lb/> Stellung der Regierung als solcher schwer zu gefährden. Wenn seine von der<lb/> Zuhörerschaft fast stets mit Begeisterung aufgenommenen Reden, in denen er stets<lb/> schlagende Argumente wider seine Gegner vorzubringen weisz, bei kühler Be¬<lb/> trachtung vage und leer erscheinen, so liegt das höchstwahrscheinlich gar nicht<lb/> daran, daß er selber kein bestimmtes Programm hat, sondern weil er nicht davon<lb/> reden kann, ohne sogleich infolge der heterogenen Zusammensetzung seines Ka¬<lb/> binetts, das jetzt aus 11 Unionisten, 8 Liberalen und 1 Arbeiterführer besteht,<lb/> im Handeln gehemmt zu sein. Ein gut Teil seiner wenigstens scheinbaren Taten¬<lb/> losigkeit in der irischen Frage ist sicher auf diesen Zustand zurückzuführen. Die<lb/> allgemeine Situation in Irland ist bereits in Heft 30 der Grenzboten umrissen<lb/> worden. Inzwischen hat die Lage eine bedeutende Verschärfung erfahren. Schon<lb/> die Tatsache, daß in Irland, abgesehen von der verstärkten Polizei, 55 000 Mann<lb/> regulärer Truppen stehen, spricht deutlich genug. Das Regiment Lord Frechs<lb/> läßt an Energie kaum zu wünschen übrig. Haussuchungen, Verhaftungen,<lb/> Zeitungsverbote sind an der Tagesordnung. Aber auch der Widerstand ist noch<lb/> beständig im Wachsen begriffen. Die Sinn-Fein-Regierung verfügt über sehr feste<lb/> Freiwilligen-Organisationen, Überfälle auf Polizisten und Soldaten, Meuchel-<lb/> morde, die wiederum Soldatenausschreitungen hervorrufen, sind etwas ganz<lb/> alltägliches, die Polizei ist machtlos, weil die Bevölkerung aus Furcht vor der<lb/> Rache der Sinn-Feiner keine Aussagen machen will. Die Militärdiktatur ist<lb/> infolgedessen bedeutend verschärft und die Strafgewalt der Kriegsgerichte erweitert<lb/> worden. Wie notwendig das letzten Endes ist, beweist die Mitte September in<lb/> Dublin gemachte Entdeckung eines neuen für den Oktober geplanten großen<lb/> Protestunternehmens, die neue Unruhen zur Folge hatte. Andererseits tritt, die<lb/> UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes dadurch immer greifbarer hervor und<lb/> dem Vernehmen nach ist der neue Regierungsplan für irisches Home-Rule denn<lb/> auch jetzt fertiggestellt. Es soll ein Parlament für ganz Irland gegründet werden,<lb/> d»es soll jede einzelne Grafschaft das Recht haben, darüber abzustimmen, ob sie<lb/> steh unter dies Parlament stellen will oder nicht. Die Grafschaften sollen Auto¬<lb/> nomie erhalten, die Befugnisse des Parlaments sollen mit Ausnahme für die<lb/> Schutzzölle etwa denen der Dominions entsprechen. Nach dem, was früher an<lb/> dieser Stelle gesagt worden ist, sieht es nicht gerade danach aus, als ob dieser<lb/> Plan Beifall finden wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_930" next="#ID_931"> Aber die Verlegenheiten der englischen Regierung sind damit nicht erschöpft.<lb/> Das Parlament benutzt jede Gelegenheit, zum Beispiel die Besprechung der<lb/> Intervention in Rußland und das Gesetz über die Zulassung der Ausländer, um<lb/> der Regierung seine Unzufriedenheit auszudrücken. Die Besetzung wichtiger Re><lb/> Merungsstellen mit nicht parlamentarischen Sachverständigen, die aus seiner<lb/> Arbeitsüberlastung wohl erklärliche häufige Abwesenheit des Premierministers<lb/> haben an sich nicht ungerechtfertigte Klagen über Eigenmächtigkeit der Regierung<lb/> und als Umgehung der parlamentarischen Kontrolle veranlaßt, die größte Be-<lb/> Uurzung aber hat die Revision des Budgets hervorgerufen. Schon im August<lb/> hatte der Finanzminister ausgerufen: Wir gehen dem Bankerott entgegen, In-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 20»</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0251]
England
mehr ins Gedränge zu geraten, die Koalition ruhig noch eine Weile weiter
stützen, und es wäre, falls die Extremisten unter den Sozialisten doch noch einmal
wieder die Oberhand bekämen, nicht ausgeschlossen, daß die nächsten Wahlen
innerpolitisch ähnlich wie jetzt in Frankreich unter dem Schlagwort für oder
Wider den Bolschewismus gemacht werden, was die Stellung der Sozialisten nicht
gerade stärken würde. Innerhalb dieser großen Grundlinien erscheint der Erfolg
der Arbeiter bei den Gemeindewahlen nur als Episode, besonders da er auf
Wahlfaulheit der Bürgerlichen beruht. Aber gerade diese Faulheit beweist doch
auch, wie geringe Bedeutung den Gemeindewahlen zuerkannt wird.
Scheint also infolge der Sozialistengefahr der Bestand der Koalition noch
bis auf weiteres nicht ernstlich gefährdet, so bleiben doch auch alle mit ihrer
Existenz verbundenen Nützlichkeiten bestehen. Lloyd George ist weiter auf sich
gestellt, kann aber in wichtigen Fragen keinen entschiedenen Schritt tun, ohne die
Stellung der Regierung als solcher schwer zu gefährden. Wenn seine von der
Zuhörerschaft fast stets mit Begeisterung aufgenommenen Reden, in denen er stets
schlagende Argumente wider seine Gegner vorzubringen weisz, bei kühler Be¬
trachtung vage und leer erscheinen, so liegt das höchstwahrscheinlich gar nicht
daran, daß er selber kein bestimmtes Programm hat, sondern weil er nicht davon
reden kann, ohne sogleich infolge der heterogenen Zusammensetzung seines Ka¬
binetts, das jetzt aus 11 Unionisten, 8 Liberalen und 1 Arbeiterführer besteht,
im Handeln gehemmt zu sein. Ein gut Teil seiner wenigstens scheinbaren Taten¬
losigkeit in der irischen Frage ist sicher auf diesen Zustand zurückzuführen. Die
allgemeine Situation in Irland ist bereits in Heft 30 der Grenzboten umrissen
worden. Inzwischen hat die Lage eine bedeutende Verschärfung erfahren. Schon
die Tatsache, daß in Irland, abgesehen von der verstärkten Polizei, 55 000 Mann
regulärer Truppen stehen, spricht deutlich genug. Das Regiment Lord Frechs
läßt an Energie kaum zu wünschen übrig. Haussuchungen, Verhaftungen,
Zeitungsverbote sind an der Tagesordnung. Aber auch der Widerstand ist noch
beständig im Wachsen begriffen. Die Sinn-Fein-Regierung verfügt über sehr feste
Freiwilligen-Organisationen, Überfälle auf Polizisten und Soldaten, Meuchel-
morde, die wiederum Soldatenausschreitungen hervorrufen, sind etwas ganz
alltägliches, die Polizei ist machtlos, weil die Bevölkerung aus Furcht vor der
Rache der Sinn-Feiner keine Aussagen machen will. Die Militärdiktatur ist
infolgedessen bedeutend verschärft und die Strafgewalt der Kriegsgerichte erweitert
worden. Wie notwendig das letzten Endes ist, beweist die Mitte September in
Dublin gemachte Entdeckung eines neuen für den Oktober geplanten großen
Protestunternehmens, die neue Unruhen zur Folge hatte. Andererseits tritt, die
UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes dadurch immer greifbarer hervor und
dem Vernehmen nach ist der neue Regierungsplan für irisches Home-Rule denn
auch jetzt fertiggestellt. Es soll ein Parlament für ganz Irland gegründet werden,
d»es soll jede einzelne Grafschaft das Recht haben, darüber abzustimmen, ob sie
steh unter dies Parlament stellen will oder nicht. Die Grafschaften sollen Auto¬
nomie erhalten, die Befugnisse des Parlaments sollen mit Ausnahme für die
Schutzzölle etwa denen der Dominions entsprechen. Nach dem, was früher an
dieser Stelle gesagt worden ist, sieht es nicht gerade danach aus, als ob dieser
Plan Beifall finden wird.
Aber die Verlegenheiten der englischen Regierung sind damit nicht erschöpft.
Das Parlament benutzt jede Gelegenheit, zum Beispiel die Besprechung der
Intervention in Rußland und das Gesetz über die Zulassung der Ausländer, um
der Regierung seine Unzufriedenheit auszudrücken. Die Besetzung wichtiger Re>
Merungsstellen mit nicht parlamentarischen Sachverständigen, die aus seiner
Arbeitsüberlastung wohl erklärliche häufige Abwesenheit des Premierministers
haben an sich nicht ungerechtfertigte Klagen über Eigenmächtigkeit der Regierung
und als Umgehung der parlamentarischen Kontrolle veranlaßt, die größte Be-
Uurzung aber hat die Revision des Budgets hervorgerufen. Schon im August
hatte der Finanzminister ausgerufen: Wir gehen dem Bankerott entgegen, In-
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