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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr.

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die Kraft gehabt hätte, die durch weitere und anscheinend ungerechtfertigte Auf¬
rechterhaltung des Kriegszustandes entstehenden Kosten und Lasten zu rechtfertigen.
So ergaben sich aus der Umstellung sofort alle natürlichen Schwierigkeiten:
Arbeitslosigkeit, Teuerung, Neueinstellung der Industrie, Ausgleich zwischen den
Anforderungen von Ein- und Ausfuhr usw., deren Lösung wegen der Langwierig¬
keit der Pariser Verhandlungen nicht zurückgestellt werden, aber gerade infolge der
nur auf die Außenpolitik berechneten Machtvollkommenheit der Regierung nicht
in befriedigender Weise gelöst werden konnten. Denn innerpolitisch bildet in
parlamentarisch regierten Ländern jede allzu erdrückende Regierungsmehrheit, die
sich aus einer Koalition zusammensetzt, für die Negierung selbst eine Gefahr,
weil ihre Energie, durch keine kräftige Opposition mehr zusammengehalten, sich
infolge der innerhalb der Koalition bestehenden inneren Widersprüche jeden
Augenblick gelähmt sieht und sich zu zersetzen droht. Die Dezemberwahlen,
außenpolitisch von gar nicht hoch genug einzuschätzendem Vorteil, haben das Land
innerpolitisch, wo es nicht mehr lediglich darauf ankam, den Krieg zu gewinnen,
sondern Probleme zu lösen, denen die verschiedenen Mitglieder der Koalition
verschieden gegenüberstehen, in eine bisher beispiellose Verwirrung gestürzt. Sie
haben die Oppositionspartei nicht lediglich in die Defensive gedrückt, sondern
völlig zertrümmert, so daß das ganze bisherige englische Schaukelsystem von
Partei zu Gegenpartei über den Haufen geworfen ist. "Manchester Guardian"
drückte diese Situation am 18. September mit folgenden Worten aus: "Lloyd
George ist ein Führer ohne Partei und es gibt gegenwärtig keine Partei, die
nach der Führerschaft strebt." Es ist gar nicht anzunehmen, daß Lloyd George
persönlich so viel daran gelegen ist, am Ruder zu bleiben, es ist aber niemand
da, der augenblicklich die Regierung übernehmen könnte. Asquith ist nicht mehr
im Unterhaus, und Lord Robert Cecil, der als der kommende Mann bezeichnet
wird, hat vorläufig keine Mehrheit, auf die er zählen könnte und ist als
Verteidiger der rücksichtslosen Blockade und der politischen Geheimverträge
für die Liberalen vorläufig allzu schwer belastet. Sehr lehrreich ist in dieser
Beziehung das Prognostikon, das am 19. September Lord Haldane über
den Ausfall von neuen Wahlen abgegeben hat. Sie würden, meinte er,
in runden Ziffern ergeben: 120 Arbeiter, 100 Iren, 100 alte Konservative,
100 moderne Konservative der Partei Lord Robert Cecils, 180 Liberale,
100 Freunde Lloyd Georges, also eine neue Koalition nötig machen, die sich
ganz den gleichen grundsätzlichen Schwierigkeiten gegenübersehen würde, wie die
gegenwärtige. Unter diesen Umständen hat Lloyd George zunächst versucht, die
Koalition fester zusammenzuschließen. Ende Juli forderte Churchill zur Bildung
einer Einheitspartei auf, in der die großen Gegensätze über Schutzzoll und Frei¬
handel vor den brennenderen Problemen zurückgestellt werden sollten. Aber die
Opposition im Lande wuchs. Auf den ersten neun Ersatzwahlen ist der Stimmen¬
anteil der Koalition von insgesamt 96 882 auf 69 388 Stimmen zurückgegangen,
der der zersplitterten Opposition von 56 168 auf 81 944 gestiegen und wenn dabei
außer fünf Oppositionellen vier Koalitionsanhänger gewählt wurden, so dankte
Lloyd George den Erfolg der letzteren weniger seinem eigenen Prestige als der
Abneigung und Furcht des Landes vor den extremen Elementen der Arbeiter¬
partei. Angesichts dieser Entwicklung scheint er einen Augenblick daran gedacht
zu haben, den ganzen rechten Flügel seiner Koalition fahren zu lassen und sich
dafür bei den Arbeitern Ersatz zu suchen. Wenigstens wurde sein Mitte September
herausgekonnnenes Flugblatt /I'ne I'neure", das u. a. die Achtundvierzigstunden¬
woche, angemessene Löhne, Mitwirkung der Arbeiter bei Festsetzung der Arbeits¬
bedingungen, finanzielle Beteiligung der Arbeiter am Arbeitsergebnis, Vertretung
der Arbeiterschaft in Kontrollräten der Bergbauindustrien versprach, allgemein als
großes Entgegenkommen gegen die Arbeiter aufgefaßt. Da kam ihm der Eisen-
bahnerftreik zu Hilfe.

Entstehung, Verlauf und Ausgang des Eisenbahnerstreiks sind überaus kenn¬
zeichnend für die ganze Lage in England, für die mit Explosionsstoff geladene


England

die Kraft gehabt hätte, die durch weitere und anscheinend ungerechtfertigte Auf¬
rechterhaltung des Kriegszustandes entstehenden Kosten und Lasten zu rechtfertigen.
So ergaben sich aus der Umstellung sofort alle natürlichen Schwierigkeiten:
Arbeitslosigkeit, Teuerung, Neueinstellung der Industrie, Ausgleich zwischen den
Anforderungen von Ein- und Ausfuhr usw., deren Lösung wegen der Langwierig¬
keit der Pariser Verhandlungen nicht zurückgestellt werden, aber gerade infolge der
nur auf die Außenpolitik berechneten Machtvollkommenheit der Regierung nicht
in befriedigender Weise gelöst werden konnten. Denn innerpolitisch bildet in
parlamentarisch regierten Ländern jede allzu erdrückende Regierungsmehrheit, die
sich aus einer Koalition zusammensetzt, für die Negierung selbst eine Gefahr,
weil ihre Energie, durch keine kräftige Opposition mehr zusammengehalten, sich
infolge der innerhalb der Koalition bestehenden inneren Widersprüche jeden
Augenblick gelähmt sieht und sich zu zersetzen droht. Die Dezemberwahlen,
außenpolitisch von gar nicht hoch genug einzuschätzendem Vorteil, haben das Land
innerpolitisch, wo es nicht mehr lediglich darauf ankam, den Krieg zu gewinnen,
sondern Probleme zu lösen, denen die verschiedenen Mitglieder der Koalition
verschieden gegenüberstehen, in eine bisher beispiellose Verwirrung gestürzt. Sie
haben die Oppositionspartei nicht lediglich in die Defensive gedrückt, sondern
völlig zertrümmert, so daß das ganze bisherige englische Schaukelsystem von
Partei zu Gegenpartei über den Haufen geworfen ist. „Manchester Guardian"
drückte diese Situation am 18. September mit folgenden Worten aus: „Lloyd
George ist ein Führer ohne Partei und es gibt gegenwärtig keine Partei, die
nach der Führerschaft strebt." Es ist gar nicht anzunehmen, daß Lloyd George
persönlich so viel daran gelegen ist, am Ruder zu bleiben, es ist aber niemand
da, der augenblicklich die Regierung übernehmen könnte. Asquith ist nicht mehr
im Unterhaus, und Lord Robert Cecil, der als der kommende Mann bezeichnet
wird, hat vorläufig keine Mehrheit, auf die er zählen könnte und ist als
Verteidiger der rücksichtslosen Blockade und der politischen Geheimverträge
für die Liberalen vorläufig allzu schwer belastet. Sehr lehrreich ist in dieser
Beziehung das Prognostikon, das am 19. September Lord Haldane über
den Ausfall von neuen Wahlen abgegeben hat. Sie würden, meinte er,
in runden Ziffern ergeben: 120 Arbeiter, 100 Iren, 100 alte Konservative,
100 moderne Konservative der Partei Lord Robert Cecils, 180 Liberale,
100 Freunde Lloyd Georges, also eine neue Koalition nötig machen, die sich
ganz den gleichen grundsätzlichen Schwierigkeiten gegenübersehen würde, wie die
gegenwärtige. Unter diesen Umständen hat Lloyd George zunächst versucht, die
Koalition fester zusammenzuschließen. Ende Juli forderte Churchill zur Bildung
einer Einheitspartei auf, in der die großen Gegensätze über Schutzzoll und Frei¬
handel vor den brennenderen Problemen zurückgestellt werden sollten. Aber die
Opposition im Lande wuchs. Auf den ersten neun Ersatzwahlen ist der Stimmen¬
anteil der Koalition von insgesamt 96 882 auf 69 388 Stimmen zurückgegangen,
der der zersplitterten Opposition von 56 168 auf 81 944 gestiegen und wenn dabei
außer fünf Oppositionellen vier Koalitionsanhänger gewählt wurden, so dankte
Lloyd George den Erfolg der letzteren weniger seinem eigenen Prestige als der
Abneigung und Furcht des Landes vor den extremen Elementen der Arbeiter¬
partei. Angesichts dieser Entwicklung scheint er einen Augenblick daran gedacht
zu haben, den ganzen rechten Flügel seiner Koalition fahren zu lassen und sich
dafür bei den Arbeitern Ersatz zu suchen. Wenigstens wurde sein Mitte September
herausgekonnnenes Flugblatt /I'ne I'neure", das u. a. die Achtundvierzigstunden¬
woche, angemessene Löhne, Mitwirkung der Arbeiter bei Festsetzung der Arbeits¬
bedingungen, finanzielle Beteiligung der Arbeiter am Arbeitsergebnis, Vertretung
der Arbeiterschaft in Kontrollräten der Bergbauindustrien versprach, allgemein als
großes Entgegenkommen gegen die Arbeiter aufgefaßt. Da kam ihm der Eisen-
bahnerftreik zu Hilfe.

Entstehung, Verlauf und Ausgang des Eisenbahnerstreiks sind überaus kenn¬
zeichnend für die ganze Lage in England, für die mit Explosionsstoff geladene


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[0248] England die Kraft gehabt hätte, die durch weitere und anscheinend ungerechtfertigte Auf¬ rechterhaltung des Kriegszustandes entstehenden Kosten und Lasten zu rechtfertigen. So ergaben sich aus der Umstellung sofort alle natürlichen Schwierigkeiten: Arbeitslosigkeit, Teuerung, Neueinstellung der Industrie, Ausgleich zwischen den Anforderungen von Ein- und Ausfuhr usw., deren Lösung wegen der Langwierig¬ keit der Pariser Verhandlungen nicht zurückgestellt werden, aber gerade infolge der nur auf die Außenpolitik berechneten Machtvollkommenheit der Regierung nicht in befriedigender Weise gelöst werden konnten. Denn innerpolitisch bildet in parlamentarisch regierten Ländern jede allzu erdrückende Regierungsmehrheit, die sich aus einer Koalition zusammensetzt, für die Negierung selbst eine Gefahr, weil ihre Energie, durch keine kräftige Opposition mehr zusammengehalten, sich infolge der innerhalb der Koalition bestehenden inneren Widersprüche jeden Augenblick gelähmt sieht und sich zu zersetzen droht. Die Dezemberwahlen, außenpolitisch von gar nicht hoch genug einzuschätzendem Vorteil, haben das Land innerpolitisch, wo es nicht mehr lediglich darauf ankam, den Krieg zu gewinnen, sondern Probleme zu lösen, denen die verschiedenen Mitglieder der Koalition verschieden gegenüberstehen, in eine bisher beispiellose Verwirrung gestürzt. Sie haben die Oppositionspartei nicht lediglich in die Defensive gedrückt, sondern völlig zertrümmert, so daß das ganze bisherige englische Schaukelsystem von Partei zu Gegenpartei über den Haufen geworfen ist. „Manchester Guardian" drückte diese Situation am 18. September mit folgenden Worten aus: „Lloyd George ist ein Führer ohne Partei und es gibt gegenwärtig keine Partei, die nach der Führerschaft strebt." Es ist gar nicht anzunehmen, daß Lloyd George persönlich so viel daran gelegen ist, am Ruder zu bleiben, es ist aber niemand da, der augenblicklich die Regierung übernehmen könnte. Asquith ist nicht mehr im Unterhaus, und Lord Robert Cecil, der als der kommende Mann bezeichnet wird, hat vorläufig keine Mehrheit, auf die er zählen könnte und ist als Verteidiger der rücksichtslosen Blockade und der politischen Geheimverträge für die Liberalen vorläufig allzu schwer belastet. Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung das Prognostikon, das am 19. September Lord Haldane über den Ausfall von neuen Wahlen abgegeben hat. Sie würden, meinte er, in runden Ziffern ergeben: 120 Arbeiter, 100 Iren, 100 alte Konservative, 100 moderne Konservative der Partei Lord Robert Cecils, 180 Liberale, 100 Freunde Lloyd Georges, also eine neue Koalition nötig machen, die sich ganz den gleichen grundsätzlichen Schwierigkeiten gegenübersehen würde, wie die gegenwärtige. Unter diesen Umständen hat Lloyd George zunächst versucht, die Koalition fester zusammenzuschließen. Ende Juli forderte Churchill zur Bildung einer Einheitspartei auf, in der die großen Gegensätze über Schutzzoll und Frei¬ handel vor den brennenderen Problemen zurückgestellt werden sollten. Aber die Opposition im Lande wuchs. Auf den ersten neun Ersatzwahlen ist der Stimmen¬ anteil der Koalition von insgesamt 96 882 auf 69 388 Stimmen zurückgegangen, der der zersplitterten Opposition von 56 168 auf 81 944 gestiegen und wenn dabei außer fünf Oppositionellen vier Koalitionsanhänger gewählt wurden, so dankte Lloyd George den Erfolg der letzteren weniger seinem eigenen Prestige als der Abneigung und Furcht des Landes vor den extremen Elementen der Arbeiter¬ partei. Angesichts dieser Entwicklung scheint er einen Augenblick daran gedacht zu haben, den ganzen rechten Flügel seiner Koalition fahren zu lassen und sich dafür bei den Arbeitern Ersatz zu suchen. Wenigstens wurde sein Mitte September herausgekonnnenes Flugblatt /I'ne I'neure", das u. a. die Achtundvierzigstunden¬ woche, angemessene Löhne, Mitwirkung der Arbeiter bei Festsetzung der Arbeits¬ bedingungen, finanzielle Beteiligung der Arbeiter am Arbeitsergebnis, Vertretung der Arbeiterschaft in Kontrollräten der Bergbauindustrien versprach, allgemein als großes Entgegenkommen gegen die Arbeiter aufgefaßt. Da kam ihm der Eisen- bahnerftreik zu Hilfe. Entstehung, Verlauf und Ausgang des Eisenbahnerstreiks sind überaus kenn¬ zeichnend für die ganze Lage in England, für die mit Explosionsstoff geladene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_336289/248>, abgerufen am 15.01.2025.